Sarah, du warst in den 80ern Kind und in den 90ern Teenager. Was prägte dich damals? Was hast du geschaut, gehört, gelesen?
Gelesen habe ich zum Beispiel Federica de Cesco. «Der rote Seidenschal» und «Der Türkisvogel».
Ich auch! Blondes Mädchen trifft attraktiven Apachen. Und man lernt viel über Proviant im Wilden Westen.
Das weiss ich nicht mehr.
Doch, es gab da dieses Trockenfleisch …
… in der Satteltasche! Ja, jetzt erinnere ich mich. Geschaut habe ich, was man eben so sehen musste, um in der Schule mitreden zu können. «Remington Steel», «Colt Seavers», «Knight Rider» mit David Hasselhoff ... Aber vor allem habe ich mein gesamtes Taschengeld im Theater Basel ausgegeben, ich war süchtig und die zeigten damals Supersachen.
Ja, die ersten Regiearbeiten von Marthaler, Castorf, Jossi Wieler. Wusstest du da: Ich will Schauspielerin werden?
Nein. Ich besuchte von der Schule aus einen Kurs beim Jungen Theater Basel. Nicht besonders gern, ich litt, ich fand alle andern viel besser. Bis zur Aufführung, die wir zum Schluss machten. Da bin ich abgetaucht, da zählte nur das Projekt, der Moment. Aber erst seit «Wilder» sage ich: Ich bin Schauspielerin. Vorher habe ich immer wieder gedreht, und alles, was kam, war ein Geschenk, aber es war zu wenig, um davon zu leben.
Zum Beispiel die Serie «Tag und Nacht», «Nachtzug nach Lissabon», «Hugo Koblet – Pédaleur de Charme».
Zuerst war ich für die kalte Küche in einem Restaurant in Basel verantwortlich, dann habe ich in einem Café gearbeitet und nach meiner Ausbildung war ich in einem Jugendzentrum in Basel tätig. Ich hatte eine Ausbildung zur Primarlehrerin gemacht.
Und hattest du ein besonderes Flair für Krimis?
Beim Casting für «Wilder» fragte mich Pierre Monnard nach meinen Lieblingskrimis. Da fiel mir zuerst nichts ein. Früher hatte ich ein bisschen «Columbo» geschaut und die eine oder andere Folge «Tatort». Inzwischen kenne ich auch die dänische Serie «Die Brücke», die gefällt mir sehr. Wenn ich Rosa Wilder spiele, denke ich auch nicht daran, dass ich jetzt im Genre Krimi bin, sondern ich bin einfach bei ihr, da ist der Job ein Grossteil ihres Lebens, aber bei Weitem nicht alles.
Marcus Signer, dein Kollege Kägi aus «Wilder», sagte mal: «Letztlich schlummert doch in jedem von uns ein kleiner Verbrecher – aber auch ein kleiner Detektiv.» Würdest du das teilen?
Ja. Jeder gute Mensch ist auch böse. Und jeder böse Mensch auch gut. Aber ich habe im richtigen Leben keine Polizistinnen-Allüren.
Das ist doch das Faszinierende an Krimis: Man ist meistens ganz bei den Ermittelnden. Und manchmal auch ganz beim Täter. Bei «Wilder III» fühle ich mich komplett schizophren, ich bin absolut bei dir und Kägi, aber auch sehr beim Serienkiller.
Mir gefällt er auch sehr gut. Als Zuschauerin ist es reizvoll, wenn ich mich nicht zwischen Gut und Böse entscheiden kann, wenn ich beide verstehe und gar nicht mehr weiss, was ich mir für wen erhoffen soll. Und als Schauspielerin macht es mir Spass, etwas auszuleben, was ich mir im Alltag vielleicht nicht erlauben würde.
Die Fiktion erlaubt uns, beide Seiten zu verstehen. Die Ausschliesslichkeit, mit der man sich im Leben gewissen Gesetzmässigkeiten unterwerfen muss, ist aufgehoben.
Es ist sehr schön, wenn wir jemanden auf diese Reise mitnehmen können. In Staffel vier wird es einen Moment geben, in dem man Rosa unmoralisches Verhalten vorwerfen kann. Das finde ich toll. Auch eine Sympathieträgerin wie Rosa muss sich an dunkle Orte begeben.
Mit Pierre Monnard kam ja nicht nur Rosa Wilder in dein Leben, sondern auch gleich noch die Sandrine aus «Platzspitzbaby». Spielst du am liebsten eher unglückliche, schwierige Frauen oder ist das ein Zufall?
Dafür sind eher die Leute verantwortlich, die mich casten. Aber natürlich interessieren mich Abgründe, die Psychologie hinter einer Figur, die Spannbreite von sehr stark bis zu unsicher, verletzlich und verletzt.
Und wie fühlt sich das zum Spielen an? Ich stelle mir immer vor, dass sich eine komische Rolle leichter erarbeiten lässt. Aber das sind nun beides Figuren, die sich auch mir als Zuschauerin sehr nachhaltig einbrennen.
Bei beiden taucht man nicht in eine Leichtigkeit ein, wie das bei einer komödiantischen Rolle möglich ist, bei beiden taucht man in eine Schwere ein. Bei «Platzspitzbaby» hat sich diese Schwere direkt auf meinen Körper übersetzt: Sandrines Stress und ihr Gefühl der Unzulänglichkeit verursachten mir Rückenschmerzen, ich träumte, mir fallen die Zähne aus. Ich war zwei, drei Monate lang höchst intensiv mit ihr beschäftigt, und mein Job als Schauspielerin ist es ja auch, meine Figur gern zu haben, sie ganz nah an mich ranzulassen, ins Herz zu schliessen. Ich war zwar abseits des Drehs nicht Sandrine, aber ich trug Sandrine immer mit mir. Mit Rosa ist es anders, körperlich nicht so schmerzvoll.
Obwohl du mit ihr über Jahre beschäftigt bist? Gleich beginnen ja die Dreharbeiten zu «Wilder IV»!
Ja, aber wir sind ein eingespieltes Team, da kann man sich fallen lassen, und Berndeutsch hilft, um mich von Rosa zu distanzieren. Das ist beinahe, als würde ich in einer fremden Sprache spielen. «Platzspitzbaby» habe ich lustigerweise auf Französisch gesehen, bei einer Vorstellung im Jura, das war nicht meine Stimme und nicht meine Sprache, das war sehr wohltuend für mich.
Ausserhalb von Bern nimmt man Berndeutsch als etwas sehr Wohlklingendes wahr, es gibt ja auch seit Jahrzehnten diese Tradition im Schweizer Film, dass die Guten Berndeutsch und die Bösen Baseldeutsch reden.
Ja.
Wenn Marcus Signer Berndeutsch in den Mund nimmt, hat man ja immer das Gefühl, es kommt was Musikalisches oder Lyrisches dabei heraus.
Marcus hat ein unglaubliches Talent im Umgang mit Sprache. Aber das ist Marcus, das kann nicht automatisch jeder Berner. Für mich ist Berndeutsch eine Gefühlssprache, sie hat Wörter, deren Bedeutung man fast nicht erklären kann, aber die man einfach spürt. Berndeutsch hat was Warmes. Wenn ich Berndeutsch rede, ist meine Stimme tiefer, das habe ich gern. Rosa auf Baseldeutsch ist undenkbar. Mir war vor Rosa nicht klar, wie sehr eine Identität an eine Sprache geknüpft ist.
Ich finde, etwas wie «Wilder» ist momentan unglaublich wichtig, um die Leute bei Laune zu halten. Man kann nicht ausgehen, man sollte sich möglichst wenig mit Menschen treffen, man zieht sich zurück. Ich jedenfalls freue mich jeden Abend darauf, «etwas Gutes» zu schauen.
Man zieht sich mehr zurück, aber man teilt auch mehr, fragt sich gegenseitig, was man schauen soll, tauscht sich aus. Man ist getrennt und doch in einer Gemeinschaft. Jedenfalls erlebe ich den Diskurs über «Wilder» gerade so.
Eine ideale Einrichtung – man kann sich über etwas anderes als Corona unterhalten und erst noch Eskapismus geniessen.
Das unterschreibe ich. Aber ich tauche auch sehr gern in ein Buch ab.
Die ganze dritte Staffel «Wilder» läuft auf Play Suisse. Auf SRF1 ist am 12. Januar die zweite Folge zu sehen.
Kommt ziemlich in die Nähe von Fargo, der Massstäbe gesetzt hat.
Chapeau alles Beteiligten. Ihr Nacht Kino vom besten.