Schweiz
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Guldimann-Abflug als grosse Ausnahme – Darum hat die SP ein Sesselkleber-Problem

ARCHIVBILD ZUM RUECKTRITT VON TIM GULDIMANN AUS DEM NATIONALRAT, AM SONNTAG, 18. FEBRUAR 2018 - Tim Guldimann (SP-ZH) verfolgt die Debatte im Nationalrat waehrend der Sommersession der Eidgenoessische ...
Tim Guldimann verabschiedet sich bereits wieder aus dem Bundeshaus. Bild: KEYSTONE

Der Guldimann-Abflug ist die grosse Ausnahme – darum hat die SP ein Sesselkleber-Problem

Tim Guldimann tritt nach zwei Jahren aus dem Nationalrat zurück. Eine Ausnahme: Sozialdemokraten verweilen mit Abstand am längsten im Parlament. Das sorgt für Zoff.
20.02.2018, 05:3420.02.2018, 11:38
Sven Altermatt und Doris Kleck / Nordwestschweiz
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Es ist ein Satz, der derzeit fast jeden Parteitag beschreiben könnte: «Viele Mitglieder sehnen sich nach Aufbruch und Neuanfang. Der Generationswechsel, der Abschied von den Älteren, steht an.» Landauf und landab stellen die Kantonalparteien die Weichen für die eidgenössischen Wahlen im Herbst 2019.

«Aufbruch und Neuanfang», das tönt verlockend. Doch der Satz bezieht sich nicht auf die Schweiz. Er stammt aus der aktuellen Titelgeschichte des Hamburger Nachrichtenmagazins «Der Spiegel». Darin befasst sich ein Autorenteam um die Journalistin Christiane Hoffmann mit der Krise der deutschen Volksparteien. In der Union und der SPD gärt es, das Spitzenpersonal ist seit Jahren dasselbe. Wie kann der personelle Neuanfang gelingen?

Just Hoffmanns Ehemann ist es, der diesbezüglich einen ungewöhnlichen Weg beschreitet: Tim Guldimann, SP-Politiker, Ex-Spitzendiplomat und Auslandschweizer mit Wohnsitz Berlin, räumt nach nur zwei Jahren seinen Sessel im Nationalrat. Der 67-Jährige schreibt in seiner Rücktrittserklärung unter anderem, er könne das Mandat in Bern nicht mehr mit seiner Familiensituation unter einen Hut bringen. «Meine Frau hat mir für meine diplomatische Karriere den Rücken freigehalten. Warum nicht mal umgekehrt?» Überhaupt sollten politische Rücktritte «besser zu früh als – wie meistens – zu spät» erfolgen, stichelt Guldimann.

Öffentliche Attacken

Das wiederum sind Sätze, die sich in Guldimanns Partei viele zu Herzen nehmen könnten. Denn gleich in mehreren Kantonen tobt eine wüste Personaldebatte in der SP. Es geht um die Frage: Wie lange soll jemand im Amt bleiben dürfen?

Vor allem aber geht es um Sesselkleberinnen und Postenschacherer. Guldimanns vorzeitiger Rücktritt ist geradezu atypisch. Auffällig viele SP-Parlamentarier sind trotz langer Amtszeit nicht bereit, ihren Sitz vorzeitig zu räumen. Und einige Langzeit-Volksvertreter liebäugeln sogar damit, 2019 nochmals anzutreten. Die Sozialdemokraten beweisen am meisten Sitzleder im Bundeshaus, wie eine aktuelle Auswertung verdeutlicht: Die Mitglieder ihrer 54-köpfigen Bundeshausfraktion sind im Schnitt seit 10.1 Jahren im Amt.

Susanne Leutenegger Oberholzer (SP-Wirtschaftsexpertin) spricht anlaesslich der "Kick-off-Veranstaltung zum SP-Wirtschaftskonzept" am Samstag, 26. August 2017 in Bern. (KEYSTONE/Lukas Lehman ...
Susanne Leutenegger-Oberholzer ist mit 69 Jahren im Nationalrat. Bild: KEYSTONE

In der SP läuft die Diskussion um vorzeitige Rücktritte besonders heftig. In Basel wurde Silvia Schenker (64) von Parteikollege Ruedi Rechsteiner öffentlich auf Facebook attackiert: «Wann lesen wir von deinem Rücktritt? Wir warten. Und wir sind viele. Ein bisschen Anstand stände dir gut an. Wenigstens ein bisschen.» Schenker wird die Legislatur beenden, genau so wie Bea Heim (71). In Solothurn hatte sich quasi die ganze Parteispitze gegen die Gesundheitspolitikerin gewandt, um den vorzeitigen Rücktritt zu forcieren.

Der Berner Ehrenkodex

In Graubünden begannen die Diskussionen um den vorzeitigen Rücktritt von Silva Semadeni (66) am Tag ihrer Wahl: Denn auf der Wartebank sitzt mit Jon Pult ein potenzieller Nachfolger von SP-Parteipräsident Christian Levrat. Der Druck wirkte nicht — Semadeni macht bis 2019 weiter. Auch die Baselbieterin Susanne Leutenegger Oberholzer (69) lässt sich nicht beirren. Sie lässt gar offen, ob sie nochmals zur Wiederwahl antritt. Die Beispiele zeigen nicht nur, dass Druck bei den Betroffenen meist Widerstand auslöst und kontraproduktiv ist. Sondern auch, dass die ärgsten Feinde in der eigenen Partei sitzen.

Öffentlich gewordene Druckversuche sind nicht im Sinne der Parteien. Logisch, denn die Nationalräte sind nicht ihrer Partei, sondern den Wählern verpflichtet — für die Dauer einer Legislatur. Druckversuche haben etwas Undemokratisches an sich. Offiziell tönt es denn auch bei allen Generalsekretariaten gleich: Der Rücktritt sei eine persönliche Angelegenheit der Betroffenen. Aber man analysiere die Ausgangslagen für die nächsten eidgenössischen Wahlen jeweils mit den Kantonalparteien. Das ist sehr vornehm ausgedrückt. Zumindest bei Bea Heim ist bekannt, dass SP-Chef Levrat persönlich das Gespräch gesucht hat.

In der Berner SP gibt es derweil einen Ehrenkodex, den alle Kandidierenden unterschreiben müssen. Sie verpflichten sich für einen Einsatz zum Wohle der Partei. Und dieser beinhaltet eben auch, Hand zu bieten für gute Nachfolgeregelungen. Sesselkleber sollen sich nicht aus der Verantwortung stehlen können.

Wie die meisten Kantonalsektionen der SP kennen auch die Berner eine Amtszeitbeschränkung: Nach 16 Jahren ist Schluss. So steht die 64-jährige Margret Kiener Nellen am Ende ihrer Politkarriere. Dass sie nicht jetzt zurücktritt, bei Halbzeit der Legislatur, sorgt intern für Unmut. Ihr Beispiel zeigt, dass selbst schriftliche Abmachungen manchmal das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen.

Der Bisherigen-Bonus hilft

Wer hat, dem wird gegeben: Das Interesse an vorzeitigen Rücktritten hat viel mit dem Bisherigen-Bonus zu tun. Tatsächlich ist dieser der wichtigste Erfolgsfaktor, um ins Parlament zu kommen. Rund vier von fünf Bisherigen werden jeweils wiedergewählt. Das zeigt eine Untersuchung des Lausanner Politikwissenschaftlers Georg Lutz, der die Ergebnisse der Nationalratswahlen von 1995 bis 2011 ausgewertet hat.

Die SVP freilich war zuletzt am häufigsten davon betroffen, dass Amtierende von Parteifreunden ausgebootet wurden. 2015 wurden allein in Zürich gleich drei altgediente Köpfe überrundet – Christoph Mörgeli, Hans Fehr und Ernst Schibli. Bemerkenswert: In der aktuellen, 74-köpfigen SVP-Fraktion politisieren neben 26 Vertretern mit mindestens elf Dienstjahren auch 28 Parlamentarier mit höchstens einer Legislatur. Die durchschnittliche Amtsdauer eines Fraktionsmitglieds sank nach den vergangenen Wahlen von 9.7 auf 7.6 Jahre, eine veritable Blutauffrischung. Die SP hat der SVP im Dienstalter-Ranking den Rang abgelaufen.

Die Ständeräte werden bekniet

Wird der SP eine solche auch gelingen? Langjährige Nationalrätinnen sprechen im Hintergrund schon mal von «einem beschämenden Schauspiel» oder gar von einer «Hexenjagd auf die Amtserfahrensten».

Tatsächlich ist der Grat zwischen Sesselklebern und Zugpferden schmal: Das zeigt sich im Stöckli; dort also, wo die Persönlichkeit bisweilen mehr zählt als das Parteibuch. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Parteichef Levrat altgediente Ständeräte im Pensionsalter regelrecht bekniet, nochmals anzutreten. (aargauerzeitung.ch)

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24 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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walsi
20.02.2018 05:56registriert Februar 2016
Einfach Amtszeitbeschränkungen einführen. Für Stände- und Nationalräte ist nach 12 Jahren Schluss für Bundesräte nach 8 Jahren. Das hat den Vorteil, dass sich Politiker nicht auf ihr Mandat als einziges Einkommen verlassen können, abgesehen von den Bundesräten, so dass sie sich auch während der Zeit als Nationalrat fit für den Arbeitsmarkt halten müssen. Leider gibt es bei der SP sehr viele Vollzeitpolitiker. Was auch eine der Erklärungen dafür sein dürfte weshalb die so verbissen am Stuhl festhalten. Als Politiker mit 60 Arbeitslos nach 20 Jahren im Parlament ist es schwer Arbeit zu finden.
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Dummbatz Immerklug
20.02.2018 06:30registriert Februar 2016
Ein bisschen politisieren und dafür nicht wenig Entschädigung einheimsen... Da würde ich doch auch am Sessel kleben wollen 🤔
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pumpkin42
20.02.2018 06:51registriert Januar 2015
Die SP macht gleich selbst vor wie Altersvorsorge praktisch geht: man arbeitet einfach länger. Deshalb steht mittelfristig einem höheren Rentenalter nicht mal die Linke im Weg.
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