Die Reise zum Sachsenring hat für Tom Lüthi eine gewisse Romantik. Hier hat seine Karriere am 21. Juli 2002 beim GP von Deutschland angefangen. In der 125er-Klasse (heute GP3). Und wir können nicht ganz ausschliessen, dass er soeben zum letzten Mal auf dem Sachsenring angetreten ist.
Die Zeiten haben sich in 19 Jahren verändert. Die Streckenführung ist beim Sachsenring nicht mehr die gleiche. Pro Startreihe stehen heute drei und nicht mehr vier Piloten. Die Klassen 125 ccm und 250 ccm heissen inzwischen Moto3 und Moto2. Und doch: Ein Blick zurück auf den 21. Juli 2002 ist gerade heute, am 21. Juni 2021 aufschlussreich.
Im Juli 2002 ist Tom Lüthis Name erst einem kleinen Kreis von Töff-Interessierten bekannt. Die GP-Saison 2002 hat im Frühjahr ohne Schweizer Beteiligung begonnen. Selbst international anerkannte Fachleute wie der Westschweizer Töff-Historiker und -Chronist Jean-Claude Schertenleib gehen davon aus, dass es in den nächsten Jahren keine Schweizer Piloten geben wird.
An diesem 21. Juli 2002 wird die internationale Töffwelt zum ersten Mal auf Tom Lüthi aufmerksam. Er debütiert auf der globalen Bühne in der 125er-Klasse mit einem 33. Platz im Training und einem 26. Rang im Rennen. Was ungefähr dem soeben 19 Jahre später am Sonntag herausgefahrenen 28. Platz im Training und dem 19. Rang im Moto2-Rennen auf der gleichen Strecke entspricht.
Bei seinem Debüt lässt Tom Lüthi 2002 im Training vier Konkurrenten hinter sich – 2021 sind es nur noch zwei. Im Rennen besiegt er 2002 sieben Piloten, 2021 lediglich zwei. 2002 fahren neun Piloten im Rennen eine langsamere Rundenzeit, 2021 nur noch vier.
Der Auftritt von Tom Lüthi ist 2002 den nationalen Medien höchstens eine Randnotiz wert. Wenn überhaupt. Der 19. Platz ist 2021 auch nur noch eine mediale Petitesse – obwohl Tom Lüthi inzwischen zu den bekanntesten Einzelsportlern im Land gehört. Sein sonntägliches Rennen auf dem Sachsenring schildert er so: «Es war ein schwieriges Wochenende für uns. Ich hatte zu Beginn des Rennens Mühe, ein gutes Gefühl zu finden und fiel etwas zurück. In der zweiten Rennhälfte konnte ich mich etwas erholen, aber nach einem Fehler wäre ich in Kurve acht fast gestürzt.»
Aus einem solchen Abenteuer, das auf dem 19. Platz endet, lässt sich im Juli 2021 neben den vielen anderen sportlichen Erregungen und Aufregungen keine schlagzeilenträchtige Story mehr drechseln. Die mediale Aufmerksamkeit, wegen der Finanzierung des Motorradrennsports durch Werbeeinnahmen letztlich der Sauerstoff dieses Geschäftes, ist nicht mehr viel grösser als vor 19 Jahren.
Wie wir es also drehen und wenden: Tom Lüthi steht am 21. Juni 2021 wieder ungefähr am gleichen Ort wie am Beginn seiner grandiosen Laufbahn am 21. Juli 2002. Das ist die bittere Realität. Aber noch etwas ist 2021 genau gleich wie 2002: Tom Lüthis Leidenschaft für diesen Sport. Eine Leidenschaft, die es ihm ermöglicht hat, einer der Grössten unserer Töffgeschichte zu werden.
2002 ist diese Passion selbstverständlich: Er bekommt die Chance, eine internationale Karriere zu starten. Er ist noch nicht 16 Jahre alt (*6. September 1986), das Leben verspricht, ein einziges Abenteuer zu werden, und es locken Ruhm und Ehre auf den Rennpisten rund um den Globus. Wer da nicht mit Leib und Seele bei der Sache ist, dem ist nicht zu helfen.
Zwischen 2002 und 2021 liegen goldene Jahre des Ruhmes, ein WM-Titel, GP-17 Siege, mehr als 50 Podestplätze und viele überwundene Krisen. Besser kann es nun nicht mehr werden. Ja, es geht für Tom Lüthi nur noch um die Frage, ob er seine Karriere um eine weitere Saison im unteren Mittelmass ohne Aussicht auf Ruhm und Ehre verlängern kann oder will. Der Vertrag mit dem Team von Eduardo Perales enthält entsprechende Verlängerungsklauseln für ein weiteres Jahr.
2002 personifiziert Tom Lüthi die neue Generation, die sich aufmacht, die Rennpisten zu erobern. 2021 gehört er zur alten Garde, die bedrängt wird von einer wilden neuen Generation. Wilder, verrückter und schneller als jene von 2002. Und doch ist der Weltmeister von 2005 mit der gleichen Leidenschaft wie 2002 dabei. Er hat das Herz eines Champions bewahrt. Er hat auf dem Sachsenring das Rennen nach einem Ausritt neben die Piste nicht abgebrochen.
Er hätte ja an die Box fahren und ein technisches Problem vorschieben können. Er reihte sich wieder ein und kämpfte wie ein Löwe. Nicht ums Podest. Nicht einmal mehr um einen WM-Punkt (Platz 15). Er hat sich in der letzten Runde lediglich vom 21. auf den 19. Platz verbessert. Die alte Garde mag untergehen. Aber sie ergibt sich nicht.
Macht es Sinn, so die Karriere in einer der gefährlichsten Sportarten zu verlängern? Diese Frage ist nicht von Aussenstehenden zu beantworten. Es liegt allein an Tom Lüthi, in den nächsten Monaten auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Bei Roger Federer und Simon Amman seit Jahren das gleiche Thema.
Nach deren langen und erfolgreichen Karrieren ist es doch auch legitim und schön zu sehen, dass die Passion und Leidenschaft all dieser Sportler trotz weniger Erfolg immer noch dieselbe wie zu Beginn der Karrieren ist und solange dies noch gegeben ist, sehe ich keinen Grund, in Rente zu gehen.