Die traditionelle State-of-the-Union-Rede des Präsidenten findet mit einer Woche Verspätung statt. Grund dafür ist die Weigerung von Nancy Pelosi, der Mehrheitsführerin im Abgeordnetenhaus, Trump während des Shutdowns der Regierung einzuladen. Trump hat nun den Schwanz eingezogen und den Shutdown aufgehoben.
Die präsidiale Adresse an sein Volk ist von grösster Wichtigkeit. Trump will seine Pelosi-Schmach ausbügeln und sich als starker Führer der Nation präsentieren. Vor allem will er seinem wichtigsten Wahlversprechen, dem Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko, zum Durchbruch verhelfen.
Für Trump steht somit viel auf dem Spiel. «Das wird der Moment sein, der seine Präsidentschaft definiert», erklärt Lindsey Graham, der zum Trump-Schmeichler mutierte republikanischer Senator aus South Carolina.
Die grosse Frage vor der State-of-the-Union-Rede lautet: Wird der Präsident das Notrecht ausrufen, um den Bau seiner Mauer auch ohne Genehmigung des Kongresses in Angriff zu nehmen? In den letzten Tagen hat Trump mehrfach gedroht, zu diesem Notrecht-Hammer zu greifen. Gleichzeitig hat er erklärt, er habe wenig Hoffnung, dass ein überparteiliches Komitee bis Mitte Februar eine für ihn akzeptable Lösung ausarbeiten werde.
Sollte Trump tatsächlich das Notrecht ausrufen, könnte er jedoch schnurstracks in eine zweite Falle tapsen, die Nancy Pelosi für ihn ausgelegt hat. Und zwar so:
Trump kennt die Feinheiten der komplexen Mechanik in Washington nicht. Ruft er das Notrecht aus, dann wird Pelosi umgehend eine «Resolution des Missfallens» (resolution of disapproval») durch das Abgeordnetenhaus peitschen. In dieser Kammer verfügen die Demokraten seit den Midterms über eine komfortable Mehrheit.
Diese Resolution wird den Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, zwingen, ebenfalls eine Abstimmung durchführen zu lassen. Um den Präsidenten zu schützen, hat McConnell bisher sämtliche Versuche in dieser Richtung abgeblockt.
Im Senat ist jedoch die Ausrufung des Notrechts auch bei einer Reihe von Republikanern unbeliebt. Rund ein Dutzend haben sich dagegen ausgesprochen. Sie befürchten ein Präjudiz mit Folgen: Künftige Präsidenten könnten ermuntert werden, ebenfalls ohne Segen des Kongresses mittels Notrechts zu regieren.
Somit ist es denkbar geworden, dass auch der von den Republikanern dominierte Senat Trump das Notrecht verweigern würde. McConnell, ein alter Fuchs, soll deshalb in den letzten Tagen Trumps Mitarbeiter dringend beschworen haben, den Präsidenten von seinen Notrecht-Plänen abzubringen.
Ob er damit Erfolg haben wird, ist unsicher. Trump will Rache für die erste Pleite gegen Pelosi, und er will seine Basis befriedigen. «Er wird es tun», sagt deshalb Jeff Roe, ein republikanischer Stratege, in der «New York Times». «Er antwortet auf die Forderungen seiner Basis, die schreit: Lasst uns aufhören, untereinander zu streiten und die Demokraten uns ins Gesicht schlagen zu lassen.»
Eine zweite Pelosi-Klatsche wäre indes verheerend für Trump. Seine wirksamste (und einzige) Waffe, Furcht einzuflössen, ist im Begriff, stumpf zu werden. Sie wirkt nur noch in der Grand Old Party selbst. Bei Pelosi ist Trump mit seinen plumpen Drohungen abgeprallt. Der Shutdown hat ihm bei den unabhängigen Wählern geschadet.
Selbst innerhalb der GOP regt sich Widerstand. So hat der Kongress gegen den Widerstand des Präsidenten eine Gesetzesänderung verabschiedet, die sich gegen einen überstürzten Rückzug der US-Truppen aus dem Nahen Osten ausspricht und ein Ende der Einmischung in den Bürgerkrieg von Jemen fordert.