Die christlichen Kirchen leiden in jüngster Zeit in der westlichen Welt unter einem Erklärungsnotstand. Die Authentizität der Bibel wird von immer breiteren Kreisen angezweifelt, die Vorstellung von Schuld und Sühne wirkt in unserer aufgeklärten Epoche antiquiert. Vor allem aber wollen wir die Erlösung nicht von einem Sündenregister und dem Wohlwollen Gottes abhängig machen.
Glauben und hoffen passt nicht zu unserer Wohlstandsgesellschaft, die sich gegen alles versichert. Nein, wir wollen unser Schicksal selber in die Hand nehmen und selbst bestimmen, wie der Himmel aussieht und es nach dem Ableben weitergeht. Denn viele sind nicht bereit, die Vorstellung in ihr Bewusstsein zu integrieren, dass nach dem Tod womöglich nichts mehr ist und rein gar nichts mehr kommt.
Wo sich in einer Konsumgesellschaft eine Nachfrage entwickelt, schiessen die Angebote bald aus dem Boden. Also musste ein Konzept her, das dem Sterben den Schrecken nahm und nach dem Tod ein besseres Leben versprach. Nein, die narzisstische Kränkung eines definitiven qualvollen Endes durfte nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Zu einem hedonistischen Leben passt ein Ende nach christlichen Vorstellungen nicht.
Fündig wurden die westlichen Erlösungssucher bei den fernöstlichen spirituellen Konzepten, die traditionell die Wiedergeburt anpreisen. Doch ihre Ideen hatten ein Haken, denn da gab es die Vorstellung vom Karma, das die Heilserwartung ganz schön trüben konnte. Als Wurm wiedergeboren zu werden ist nicht sexy.
Die Lösung der westlichen Sucher war die Light-Variante der fernöstlichen Spiritualität. Da jede Idee einen neuen Namen braucht, um erfolgreich vermarktet werden zu können, nannten sie das Kind Esoterik, das so viel wie Geheimwissen bedeutet. Ein cleverer Schachzug, denn der Name hatte etwas Magisches: Wer möchte nicht schon in den Besitz dieser versteckten spirituellen Erkenntnisse kommen, die obendrein ein Erlösungskonzept anboten, das über den Tod hinausreicht?
Die Heilsrezepte, die esoterische Meister ihren Schülern aus dem Westen feilbieten, klingen mehr nach übersinnlicher Science Fiction denn nach Mystik und Spiritualität. Die Jünger der Meisterin Elena Blavatsky üben sich in Channeling und Rückführung. Sie «bauen» einen geistigen Kanal zu den angeblich aufgestiegenen Meistern in den kosmischen Sphären und empfangen göttliche Botschaften, quasi das Evangelium 2.0.
Was sie als spirituelle Wahrheiten deklarieren, sind Spekulationen der gröberen Art. Nachweisen lässt sich diese Einschätzung durch den Umstand, dass die Tausenden von Channeling-«Experten» eine köstliche übersinnliche Kakofonie produzieren. Denn jede und jeder verkündet seine eigene Wahrheit. Der einzige gemeinsame Nenner: Alle sind überzeugt, dass ihre Wahrheit die echte Wahrheit sei. So entsteht ein esoterischer Kosmos voll von divergierenden Wahrheiten.
Einen ähnlichen spirituellen Lakmustest lässt sich auch bei den Rückführungen machen. Bei dieser esoterischen Praxis führen die Meister ihre Kunden und Kundinnen – zu 70 bis 80 Prozent Frauen – zurück in die eigene Vergangenheit.
Um die Klienten bei Laune zu halten und ihnen ein unvergessliches übersinnliches Erlebnis zu bieten, erfahren diese meistens, dass sie in einem früheren Leben eine historische Persönlichkeit gewesen seien. Eine Kaiserin, eine Hohepriesterin, ein König. Einen Sechser im spirituellen Lotto ziehen jene Esoterikerinnen, denen die Rückführer feierlich offenbaren, dass sie in einem sehr frühen Leben Kleopatra gewesen seien.
Und so wandeln aktuell Hunderte, wenn nicht Tausende Kleopatras durch die Weltgegenden. Hausfrauen, Sekretärinnen, Bäuerinnen, Bankangestellte usw. Da bleibt viel Raum, um den Traum zu kultivieren, wenigstens im nächsten Leben ein esoterischer Superstar zu werden.