Frau Wyden Guelpa, Sie haben ja vielleicht Nerven! Da hat in der Schweiz schon ein kurzer Vaterschaftsurlaub einen schweren Stand. Und dann kommen Sie und verlangen 38 Wochen Elternzeit.
Anja Wyden Guelpa: Dieser Vorschlag ist absolut angemessen und schweizerisch besonnen. Im Rahmen einer Studie liessen wir die Literatur untersuchen, die zwischen 2010 und 2017 zum Thema Elternzeit erschienen ist. Dabei zeigte sich: Das durchschnittliche OECD-Land gewährt frischgebackenen Eltern 54 Wochen bezahlten Urlaub. Die Schweiz ist im internationalen Vergleich das absolute Schlusslicht – das ist doch beschämend! Aber natürlich ist unsere Rolle eine andere als die des Parlaments. Wir denken prospektiv über Familienfragen nach und beraten den Bund.
Im Hier und Jetzt hat sich die Ständeratskommmission gerade zu einem Kompromiss durchgerungen: Einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub, wie ihn die Volksinitiative von Travail Suisse verlangt, lehnen die Politiker zwar ab. Im Rahmen eines Gegenvorschlags wollen sie frischgebackenen Vätern aber zumindest zwei Wochen bezahlten Urlaub ermöglichen. Sind Sie zufrieden?
Jeder zusätzliche Tag ist für Familien ein gewonnener Tag. Gesellschaftspolitisch dürfte ein solches Modell jedoch kaum eine Wirkung entfalten. Unsere Untersuchung zeigt klar, dass eine längere Elternzeit nicht nur positive Auswirkungen auf die Gleichstellung von Mann und Frau hat, sondern auch auf die Erwerbsquote und auf die Gesundheit der Kinder und der Eltern.
Und darum errichten Sie daneben noch ein – politisch chancenloses – Wunschschloss?
Die Elternzeit ist keine Erfindung aus dem Märchen und auch kein Wunschschloss. Sie ist ein ganz reales Bedürfnis. Wir kennen es ja schon von der Mutterschaftsversicherung: Auch dort hinkte die Schweiz dem restlichen Europa – peinlicherweise – jahrzehntelang hinterher. Und auch dort malten die Gegner den Teufel an die Wand und beschworen das Aus der KMU herauf. Bei der Elternzeit haben wir nun frühzeitig einen Faktencheck gemacht, damit wir die Bevölkerung und die Politik evidenzbasiert informieren können.
Wagen Sie eine Prognose: Wird die Vaterschaftsurlaub-Initiative eine Mehrheit finden, wenn sie in rund drei Jahren an die Urne kommt? Oder wie viele Anläufe braucht es noch?
Ich glaube, so schlecht sieht es gar nicht aus. Wenn man sich vor Augen führt, wie schnell die Unterschriften für die Volksinitiative zusammengekommen sind und wie stark gerade jüngere Arbeitnehmer das Bedürfnis nach einem unbezahlten Elternurlaub äussern, dann dürfte ein respektables Resultat drinliegen. Ob es bereits für eine Mehrheit reicht, wird wohl davon abhängen, wie gut die Mobilisierung der Jungen im Abstimmungskampf gelingt.
In der Hälfte der OECD-Länder bekommen frischgebackene Eltern 43 Wochen oder länger frei nach der Geburt ihres Kindes. Steht es in diesen Ländern wirklich so viel besser um die Gleichstellung von Mann und Frau?
Gerade was Frauen in den Chefetagen betrifft, ist die Situation in der Schweiz wirklich katastrophal. Zahlreiche afrikanische Länder schneiden besser ab, von Nachbarländern wie Frankreich oder Deutschland ganz zu schweigen.
Nun spricht die Faktenlage aber nicht in jeder Hinsicht für eine ausgebaute Elternzeit. Die Lohnungleichheit kann bei einem sehr grosszügigen Urlaub sogar zunehmen, wie Studien zeigen.
Das ist richtig. Es kommt sehr darauf an, wie eine Elternzeit ausgestaltet ist. Dauert der Urlaub mehrere Jahre und wird grösstenteils von den Müttern bezogen, wie dies in gewissen osteuropäischen Ländern der Fall ist, dann zementiert dies die traditionellen Rollenbilder, anstatt sie aufzubrechen. Darum verlangen wir auch nur 38 Wochen Elternzeit – und nicht etwa 160 Wochen, wie es etwa dem slowakischen oder dem ungarischen Modell entsprechen würde.
Sie schlagen vor, dass die Väter mindestens 8 der 38 Wochen Elternzeit beziehen müssten. Zudem sollen die beiden Elternteile maximal 2 Wochen gleichzeitig beziehen können. Warum das komplizierte Regelwerk?
Die Idee ist ja, dass sich beide Elternteile im Alltag um die Kinderbetreuung kümmern. Wenn die Mutter die ganze Zeit allein daheimbleibt, nützt das wenig. Darum sieht unser Vorschlag vor, dass die Urlaubstage verfallen, wenn der Vater das Minimum von acht Wochen nicht bezieht. Würden Mutter und Vater grosse Teile der Elternzeit gleichzeitig einziehen, bestünde das Risiko, dass die Paare in dieser Zeit einfach in die Ferien fahren. Dafür soll die Allgemeinheit nun wirklich nicht aufkommen.
Mindestens eine Milliarde Franken würde ein Elternurlaub kosten, wie Sie ihn sich vorstellen. Wer soll das bezahlen?
Die beste Lösung wäre wohl ein Mix aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen sowie einer Finanzierung über die Mehrwertsteuer. Man darf nicht vergessen, dass sich die Investitionen auszahlen: Steigt die Erwerbsquote der Frauen nur schon um ein Prozent, fallen dadurch die Steuereinnahmen so viel höher aus, dass die Kosten einer 18- bis 20-wöchigen Elternzeit gedeckt sind.
Wie erklären Sie es sich, dass der Arbeitgeberverband zwar unlängst im watson-Interview für ein besseres Krippenangebot plädiert hat, einer bezahlten Elternzeit aber kritisch gegenübersteht?
Es gibt bereits einige multinationale Unternehmen wie zum Beispiel IKEA, die ihren Mitarbeitern in der Schweiz grosszügige Lösungen anbieten. Die tun das ja nicht nur aus Nettigkeit, sondern weil es sich im Kampf um Talente eben auszahlt. Für mich ist es ein Mysterium, warum viele Schweizer Firmen im Gegensatz dazu weiter auf der Bremse stehen. Das traditionelle Rollenbild ist in den Köpfen halt noch sehr stark verankert.
Als SP-Mitglied müssen auch Sie sich den Ideologie-Vorwurf gefallen lassen. Der Inlandchef der NZZ wirft Ihnen in einem Kommentar vor, Sie machten mit Ihrer Kommission «unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaftlichkeit handfeste – linke – Politik».
Ach, das ist doch Unsinn. Die Kommission setzt sich aus 15 Experten zusammen, keiner von uns hat ein politisches Mandat, und viele lehren an Universitäten. Wir machen keine Politik, sondern zeigen ein sinnvolles Modell, das auf den Erfahrungen der OSZE-Länder und auf der Wissenschaft basiert.