Schweiz
Interview

Epidemiologe Puhan will mehr Corona-Massnahmen an Schweizer Schulen

Interview

Corona an Schulen: «Es geht um bis zu 10'000 Long-Covid-Fälle schweizweit bei Kindern»

Eine hohe Inzidenz und teilweise kaum noch Schutzmassnahmen: Der Epidemiologe Milo Puhan sagt, an den Schulen passiere zu wenig, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Zudem spricht er sich für eine Ausweitung der Zertifikatspflicht aus.
25.08.2021, 09:5325.08.2021, 10:09
Dominic Wirth / ch media
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Wissenschaftler Milo Puhan, Universität Zürich
Milo Puhan hat das Forschungsprogramm Corona Immunitas ins Leben gerufen.Bild: UZH, Frank Brüderli

Milo Puhan ist Professor für Epidemiologie und Public Health an der Universität Zürich. Er ist einer der Gründer von Corona Immunitas, einem Forschungsprogramm, das untersucht, wie verbreitet Covid-19 in der Schweizt ist. Bis im Sommer war Puhan zudem Mitglied der wissenschaftliche Taskforce des Bundes. Im Januar hat er für diese ein Papier zur Wirksamkeit verschiedener Massnahmen an den Schulen mitverfasst und verantwortet.

Herr Puhan, die Schulen sind wieder offen, darin die Masken oft gefallen – und gleichzeitig das Virus stark verbreitet im Land. Wie explosiv ist diese Mischung?
Milo Puhan: Es ist richtig, dass wir eine hohe Inzidenz haben, und insgesamt eine unübersichtliche Situation. Das hat auch mit dem Ferienrückkehrern zu tun. In einer solchen Phase ist es wichtig, ein passendes Massnahmenpaket zu haben – gerade auch an den Schulen.

Haben wir das?
Ich sehe da schon eine gewisse Diskrepanz.

Es ist nicht einfach, den Überblick zu behalten, doch insgesamt kann man sagen: Die Maske ist meist aus den Schulhäusern verschwunden, es gibt kaum CO2-Messgeräte, Reihentests werden nur teilweise gemacht. Reicht das?
Nein, es passiert aus meiner Sicht zu wenig. Man kann an den Schulen verschiedene Sicherheitsnetze installieren, um die Verbreitung des Virus zu bekämpfen – eben beispielsweise Reihentests, Masken oder Luftqualitäts-Überwachung. Vielerorts ist das Paket nicht ausreichend, weil es nicht zur aktuellen Situation passt. Die Unsicherheit ist gross. Mehr Massnahmen wären sicher gut.

Wie würden Sie im Moment vorgehen?
Ich würde in den ersten Wochen regelmässig testen, sicher zweimal wöchentlich. Dann muss man konsequent lüften, und hier helfen CO2-Messgeräte, die auf schlechte Luftqualität hinweisen. Man muss sich zudem überlegen, inwieweit sich momentan Klassen mischen sollen. Und dann, einfach, aber ganz wichtig: Kommunizieren, dass kranke Schüler zuhause bleiben müssen.

Milo Puhan, Direktor des Instituts fuer Epidemiologie, Biostatistik und Praevention, Universitaet Zuerich spricht an einem Point de Presse mit Fachexperten des Bundes zur Corona-Pandemie Covid-19, am  ...
Milo Puhan spricht an einem Point de Presse mit Fachleuten des Bundes zur Corona-Pandemie.Bild: keystone

Schaffhausen hat die Maskenpflicht teilweise wieder eingeführt, weil die Reihentests viele Fälle zutage gefördert haben; andere Kantone melden ebenfalls zahlreiche positive Pooltests. Manche Kantone haben diesen Überblick gar nicht, in anderen macht nur ein Teil der Schulen mit. Was heissen die Ergebnisse aus den Test-Kantonen für Sie?
Generell ist das Virus derzeit in der ganzen Schweiz stark verbreitet. Wir wissen, dass sich bei den Kindern und somit an den Schulen die Inzidenz im Rest der Bevölkerung spiegelt. In der jetzigen Phase würde ich an Schulen, an denen nicht regelmässig getestet wird, auf Masken setzen – und zwar ab der vierten Klasse. Ich bin ein Verfechter offener Schulen und halt es für weniger disruptiv, eine Maske zu tragen als Klassen in Quarantäne schicken zu müssen.

Kinder und Jugendliche sind weniger von schweren Verläufen betroffen. Weshalb ist es überhaupt gefährlich, wenn sich das Virus an den Schulen ausbreiten kann?
Es stimmt, dass die Hospitalisationszahlen tiefer sind als in anderen Altersgruppen. Gleichzeitig ist es noch zu früh, um definitiv beantworten zu können, wie gefährlich die Delta-Variante des Virus für Kinder ist. Wir wissen, dass zwei Prozent von ihnen von – meist milde verlaufendem – Long Covid betroffen sind. Das klingt nach wenig, aber es geht schnell einmal um 5000 bis 10'000 Kinder schweizweit, wenn man die Anzahl Kinder mit einer Infektion berücksichtigt. Und man darf auch nicht vergessen, dass die Kinder das Virus nach Hause tragen können. Unter Umständen zu ungeimpften Personen, denen manchmal ein schwerer Verlauf droht.

Am Mittwoch trifft sich der Bundesrat zu seiner nächsten Sitzung, und die Lage ist angespannter, als ihm das lieb sein kann.
Die Situation ist tatsächlich beunruhigend. Wir haben jetzt schon viele Patienten auf den Intensivstationen, und es ist anzunehmen, dass die Zahlen noch steigen. Wenn es so weitergeht, steuern wir auf eine Situation wie im letzten Herbst zu.

Anders als damals können die Leute sich nun impfen lassen. Wer das wollte, konnte es machen. Wer nicht geimpft ist, hält es offenbar für nicht nötig. Da bleibt wenig gesellschaftlicher Konsens für weitere Massnahmen.
Ich würde das nicht nur in diese zwei Lager trennen. Es gibt noch ein drittes: Jenes der Leute, die sich noch nicht mit der Frage befasst haben – auch, weil der Staat an diese Communities nicht herangekommen ist.

Sie sprechen die Bevölkerung mit Migrationshintergrund an. Haben die Behörden zu wenig gemacht, um diese Menschen zu erreichen? Und: Muss das der Staat überhaupt?
Zuerst einmal: Ja, der Staat muss zu den Leuten gehen, er kann nicht darauf warten, dass sie zu ihm kommen. Es ist enorm wichtig, nahe bei den Leuten zu sein, wenn es um gesundheitliche Fragen wie eine Impfung geht. Nur so kann man erklären und zu einem Entscheid für oder gegen eine Impfung beitragen. Offensichtlich ist das nicht überall gelungen. Hier braucht es nun einen Kraftakt.

Wie?
Zum Beispiel mit Impfbussen, die vor Ort gehen. Mit Botschaftern, die lokal verankert sind und die Communities an Bord holen. Das kann im Fussballclub sein oder sonstwo. Das ist Knochenarbeit, aber nur so kommt man an die Leute ran.

Ansprache ist ein Mittel, Druck ein anderes. Muss der Bundesrat stärker auf das Covid-Zertifikat setzen, um die Impfquote zu erhöhen?
Wir haben das Zertifikat, also sollten wir es auch einsetzen, wo die Infektionsgefahr erhöht ist. Das gilt vor allem für Innenräume, in denen man sich länger aufhält. Zum Beispiel Restaurants. Ich finde, man sollte auch darüber nachdenken, beim Getestet-Status die Schraube anzuziehen und diesen für einen kürzeren Zeitraum zu vergeben. (saw/ch media)

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37 Kommentare
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Boss93
25.08.2021 11:02registriert Januar 2019
Ich verstehe nicht wieso man die Zeit in den Sommerferien nicht genutzt hat für Massnahmen zum Schutz der Kinder.
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Bravo
25.08.2021 10:43registriert Juli 2018
Wenn die Mutter sich weigert, eine Impfung zu erhalten, dann schauts wohl auch für das Kind schlecht aus.
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Nette
25.08.2021 10:35registriert Juli 2021
Danke für die klare Aussage im Namen aller von Long Covid betroffenen Kindern. Wer es hat leidet oft Monate oder inzwischen auch über ein Jahr und bekommt kaum Hilfe. Uns und anderen Familien geht es leider so.
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