Die Schweizer hatten bei einer WM schon viele Schwierigkeiten. Nur ein Problem hatten sie noch nie: ein Goalie-Problem.
Mag sein, dass Stürmer und Verteidiger auf WM-Niveau überfordert waren. Doch die Torhüter gehörten immer zu den Besten. So ist es kein Zufall, dass die Goalies vor den Verteidigern und Stürmern die NHL erobert haben und dort Millionäre geworden sind (David Aebischer, Martin Gerber, Jonas Hiller).
Grosse Goalies mit Schweizer Pass prägten und prägen seit Beginn unserer Hockey-Geschichte die Meisterteams. Sie waren und sind auch der Nationalmannschaft bei der WM ein sicherer Rückhalt.
Doch nun gibt es eine bange Frage: Ist Leonardo Genoni der letzte grosse Goalie mit Schweizer Pass? Haben wir künftig bei der WM ein Goalie-Problem? Ja, damit müssen wir rechnen.
Zwar reift eine neue, durchaus talentierte Generation heran: Philip Wüthrich, Sandro Aeschlimann, Joren van Pottelberghe, Melvin Nyffeler, Ludovic Waeber, Luca Hollenstein und Akira Schmid.
Würden sich die Zeiten und die Ausländerregelung nicht ändern, so könnten sich mehrere Vertreter dieser neuen Generation tatsächlich zu einem meisterlichen letzten Mann auch für die Nationalmannschaft entwickeln. Aber die Erhöhung von vier auf sechs Ausländer hat fatale, heute noch völlig unterschätzte Auswirkungen. Bei vier Ausländern zögerten die Sportchefs, eine Ausländer-Lizenz für den Goalie einzusetzen. Weil sie vier ausländische Feldspieler für unerlässlich gehalten haben.
Bis heute sind Lugano (Cristobal Huet) und die ZSC Lions (Ari Sulander) die einzigen Meisterteams, die von allem Anfang an auf einen ausländischen Torhüter gesetzt haben. Jakub Stepanek kam 2016 nur zum SCB, weil Marco Bührer verletzungsbedingt ausgefallen war.
Aber bei sechs Ausländern werden die ausländischen Goalies künftig die Regel und nicht mehr die Ausnahme sein. Ambri, Biel, Kloten, Lugano und die ZSC Lions werden bereits nächste Saison ausländische Torhüter im Kader haben. Logisch: Lieber einen ausländischen Nationalgoalie als einen Schweizer, der eh nicht in den Schuhen von Leonardo Genoni stehen kann.
Es wird für die neue Generation also viel schwieriger werden, die Nummer 1 zu werden, als für die «Generation Genoni». Ja, bei der neuen Ausländerregelung hätte es die Karriere von Leonardo Genoni wahrscheinlich gar nicht gegeben: Davos hätte im Sommer 2007 bei sechs Ausländern einen ausländischen Torhüter verpflichtet und nicht auf die zwei ZSC-Junioren Leonardo Genoni und Reto Berra gesetzt.
Die Erhöhung der Anzahl Ausländer hat bei den Verteidigern und den Stürmern keine Auswirkung auf die Nationalmannschaft: Die besten Schweizer haben ihren Platz im Klub und werden durch mehr Konkurrenz womöglich gar besser. Die Goalies aber verlieren ihre Existenzgrundlage.
Die Torhüterfrage treibt nun erstmals bei einer WM auch Nationaltrainer Patrick Fischer um: Die letzten 20 Jahre haben eine Handvoll Goalies unsere WM-Teams geprägt: David Aebischer, Martin Gerber, Jonas Hiller, Leonardo Genoni und Reto Berra. Seit 2004 war immer einer aus diesem Quintett die Nummer 1.
In dieser Zeit war bei der WM die Nummer 3 ohne jede Bedeutung: Zuletzt spielten Melvin Nyffeler, Robert Mayer, Gilles Senn, Niklas Schlegel, Sandro Zurkirchen, Daniel Manzato, Tobias Stephan und Ronnie Rüeger die Rolle von «WM-Touristen».
Nun hat Patrick Fischer zum ersten Mal keine chancenlose Nummer 3, keinen «WM-Touristen» nominiert. Leonardo Genoni ist die Nummer 1. Aber wer wird der zweite Torhüter sein? Reto Berra konnte bisher bei jedem seiner zehn Aufgebote für Titelturniere davon ausgehen, dass er entweder die Nummer 1 oder 2 sein wird. Doch nun muss er in Finnland um seine Position kämpfen.
Leonardo Genoni wird im August 35. Reto Berra ist im Januar 35 geworden. Die Schweiz braucht eine neue Nummer 1. Deshalb wird Patrick Fischer in Helsinki auch Sandro Aeschlimann (27) eine Chance geben. «Er hatte in Davos eine Super-Saison und als es in den Playoffs drauf ankam, hat er gegen die Lakers die Wende ermöglicht und im Halbfinal Zug fast zur Verzweiflung gebracht. In den WM-Vorbereitungsspielen hat er sich auch gegen die Grossen hervorragend bewährt», sagt der Nationaltrainer. Und bestätigt: «Wir haben erstmals keine klare Nummer 3.»
Wir haben in Helsinki erstmals den Luxus von drei fast gleichwertigen WM-Goalies. Aber es ist die Götterdämmerung einer fast hundertjährigen Goalie-Kultur. Ist Leonardo Genoni der vorerst letzte grosse WM-Goalie? Die Frage ist berechtigt. Je öfter Patrick Fischer bei der WM Sandro Aeschlimann einsetzt, desto grösser ist die Chance, dass der HCD-Schlussmann der nächste Leonardo Genoni werden kann.
Wenn die Schweizer in der Weltspitze bleiben wollen, brauchen sie bald einen nächsten Leonardo Genoni.