Hinweis: Das Review enthält leichte Spoiler.
Netflix will endlich einen Oscar gewinnen. Dafür brachte der Streaming-Dienst sogar drei seiner Filme in vereinzelte Kinos. Einer davon war «Bird Box», ein apokalyptischer Horrorthriller. Nun ist der Film endlich online verfügbar und muss beweisen, ob er Oscar-tauglich ist.
Doch was braucht man überhaupt, um einen Oscar-würdigen Film zu produzieren? Geht es nach Netflix, dürfte das in etwa Folgendes sein:
Da wäre einmal eine interessante Grundidee.
In diesem Fall eine Mutter, die in einer postapokalyptischen Welt ihre zwei Kinder zu beschützen versucht. Klingt jetzt nicht sehr neu, aber welche Story ist das heute schon? Potenzial hat es sicherlich. Dass die Story auf einem beliebten Roman basiert, hilft sicher auch.
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Als Nächstes muss die Idee in ein Drehbuch übersetzt werden – und zwar von einem Genre-Profi.
Das hat Eric Heisserer übernommen. Kennen muss man den nicht, aber sein Portfolio im Horror- und Science-Fiction-Segment kann sich sehen lassen. Und zuletzt war er für «Arrival» sogar für einen Oscar nominiert.
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Ein Cast, der möglichst viele Auszeichnungen gewonnen hat.
Was haben wir? Sandra Bullock. Sie hat mit Science Fiction genauso Erfahrung wie im Entgegennehmen von Oscars. Ihr zur Seite stehen John Malkovich, Jacki Weaver und Sarah Paulson. Nur schon die Filmpreis-Nominationen und Auszeichnungen von Paulson sind so zahlreich, dass es dafür einen separaten Artikel auf Wikipedia gibt.
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Was fehlt noch? Ah genau, jemand Kompetentes auf dem Regiestuhl.
Am besten aus Nordeuropa. Diese Skandinavier haben es nämlich schon ziemlich im Griff, wenn es um Filme geht – auch wenn Hollywood noch immer nicht so genau verstanden hat, wieso.
Für «Bird Box» hat Netflix sich für die dänische Regisseurin Susanne Bier entschieden. In ihrem Trophäenschrank finden sich ein Emmy, ein Oscar sowie ein Zertifikat für eine Oscar-Nominierung.
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Gute Voraussetzungen für einen grossartigen Film, oder? Doch schlussendlich zählt nur, was am Ende über unsere Bildschirme flimmert – und was sich da auf meinem Fernseher abgespielt hat, war schlicht nicht Oscar-würdig.
Es ist nicht so, dass der Film überaus schlecht wäre oder gar Zeitverschwendung, aber leider schaffte es die Story einfach nicht, mich aus den Socken zu hauen, um eine alte Redewendung zu bemühen.
Dabei ist die Ausgangslage der Geschichte durchaus vielversprechend: In unmittelbarer Zukunft sind beinahe alle Menschen tot. Ausgerottet von einer unsichtbaren Macht oder Wesenheit, bei deren Anblick man den Drang verspürt, sich umzubringen. Wer überlebt hat, irrt mit Augenbinden durch die Landschaft oder versteckt sich in lichtundurchlässigen Gebäuden.
In dieser Welt versucht Malorie mit ihren zwei Kindern auf einem kleinen Boot einen Fluss hinunter zu navigieren. Ihre Hoffnung ist, dass sie am Ende ihrer Fahrt einen sicheren Ort findet. Dabei haben sie die ganze Zeit die Augen verbunden, denn wer einen Blick in die Welt wagt, stirbt.
Wer im Horrorgenre zu Hause ist, wird sich unweigerlich an den im April 2018 veröffentlichten Horrorfilm «A Quiet Place» erinnert fühlen. Auch da bedrohen mysteriöse Wesen die Menschheit, allerdings dürfen die Protagonisten dort keine Geräusche machen. Dass Netflix den erfolgreichen Indie-Film kopiert hat, ist aber unwahrscheinlich, dafür sind beide Produktionen zu nahe aufeinander erschienen.
«Bird Box» geht denn auch von der Erzählweise her anders an den Stoff heran: Schon zu Beginn werden zwei zeitliche Handlungsstränge etabliert, die rund fünf Jahre auseinanderliegen. Während man im einen Handlungsstrang in der filmischen Gegenwart verweilt, erzählt der andere die Ereignisse, die sich zur Zeit der Apokalypse zutrugen.
Das hat durchaus seinen Reiz, immerhin weiss man so schon, wohin die Handlung der Vergangenheit führt, und es ist vor allem spannend, zu ergründen, wie es zur aktuellen Situation im Boot kommt.
Durch diese beiden Erzählweisen schafft der Film einen interessanten Kontrast: Zum einen ist da die fast schon klaustrophobische Vergangenheit, in welcher sich die Hauptdarstellerin, zusammen mit einer Gruppe Überlebender, in einem Haus verschanzt. Dann ist da die kühle, trostlose Gegenwart, in welcher die Protagonistin allein mit ihren Kindern auf einem Fluss ums Überleben kämpft.
Eines der Highlights des Films sollte dann eigentlich der Moment sein, in welchem die beiden zeitversetzten Erzählstränge endlich aufeinandertreffen und man erfährt, wie alles zusammenpasst. Doch genau dort hat man den Eindruck, dem Drehbuchautor seien die Ideen ausgegangen. Die Puzzleteile passen zwar alle zusammen, ein interessantes Gesamtbild ergeben sie aber nicht.
Hier stellt sich für mich die Frage, ob diese Vorgeschichte wirklich nötig gewesen wäre. Es ist durchaus klar, was der Drehbuchautor mit der nichtlinearen Erzählweise bezwecken wollte: Charakterentwicklung.
Die Vorgeschichte sollte nachvollziehbare Gründe liefern, warum Malorie in der Gegenwart so handelt, wie sie das eben tut. Warum ihre Kinder beispielsweise keine richtigen Namen haben, sondern nur «Boy» und «Girl» genannt werden.
Trotzdem können die Charaktere einen kaum überraschen und auch auf emotionaler Ebene macht es nicht Klick. Immerhin bei der Protagonistin schaffte «Bird Box» es, eine einigermassen interessante Person zu porträtieren. Selten hat man eine Mutter gesehen, die so rational, nüchtern handelt, ihren Nachwuchs fast schon militärisch indoktriniert, die Augenbinde niemals abzunehmen.
Hier hat Netflix wirklich auf die richtige Schauspielerin gesetzt, denn Sandra Bullock meistert ihre Rolle wunderbar, auch wenn sie sicher nicht bis an ihre schauspielerischen Grenzen gehen musste.
Enttäuschend fand ich die Darbietung von John Malkovich. Es ist nicht so, dass er einen schlechten Job gemacht hätte, sondern vielmehr, dass seine Figur einfach nicht das schauspielerische Potenzial bot, welches er abzurufen vermag.
«Bird Box» ist ein solider Horrorthriller, der durchaus den einen oder anderen tollen Moment hat. Aber solide reicht nun einmal nicht aus, um mich zu begeistern, und schon gar nicht, um einen Oscar zu gewinnen. Dennoch gibt es weitaus dümmere Horrorfilme, die man sich antun kann.
«Bird Box» ist ab sofort auf Netflix abrufbar.
Die Laufzeit beträgt 124 Minuten.