Herr Silberschmidt, glauben Sie, dass Industriestaaten wie die Schweiz egoistisch sind?
Gaudenz Silberschmidt: Wie kommen Sie darauf?
Weil sie Empfehlungen der WHO, wie zum Beispiel eine gerechte Impfstoffverteilung, oft einfach ignorieren.
Die Empfehlungen der WHO werden nicht einfach ignoriert. Aber die Hauptaufgabe der Politik in jedem Land ist es primär, auf die eigene Bevölkerung zu schauen. Egoistische Tendenzen sind da zum Teil nötig und richtig, zum Teil gehen sie aber auch zu weit. Es wäre jedoch falsch zu sagen, dass die Staaten dieser Welt nicht zusammenarbeiten. Es gibt eine grosse internationale Kooperation, die von der WHO angeführt wird.
Macht die Schweiz da auch mit? In anderen Ländern ist die WHO primäre Informationsquelle in Sachen Corona. In der Schweiz tritt sie höchstens am Rand auf.
Diese Beobachtung teile ich auch. Sowohl politisch als auch medial wird die WHO in der Schweiz vergleichsweise wenig beachtet.
Also ist die Schweiz egoistisch.
Nein. Die Schweiz beteiligt sich ebenfalls an den Anstrengungen der WHO. Es gibt natürlich Bereiche, in denen die Zusammenarbeit nicht so gut läuft. In vielen anderen Bereichen, die medial vielleicht nicht so grosse Aufmerksamkeit kriegen, läuft die Zusammenarbeit aber gut.
Können Sie mir ein Beispiel machen?
Die Art und Weise, wie wir über Corona sprechen, bietet sich hier an. Meine Tochter hat zu Beginn der Pandemie gesagt, dass sich Begriffe wie «Covid» nicht durchsetzen werden. Heute sprechen alle von Covid oder Omikron. Die gemeinsame Sprache, die sich durchgesetzt hat, kommt von der WHO. Das vergisst man schnell. Wenn es die WHO nicht gäbe, würden alle Staaten anders vom Virus sprechen, man hätte keine Ahnung, welcher Impfstoff wirkt und welcher nicht, man hätte keine Ahnung, welche Varianten gerade auf der Welt zirkulieren. Auch die Schweiz profitiert davon.
Und wo lässt die Zusammenarbeit zu wünschen übrig?
Gewisse Massnahmen, die wir empfehlen, werden von den Ländern nicht umgesetzt. Oder entgegen unserer Empfehlung doch umgesetzt. Wir haben zum Beispiel seit Beginn der Pandemie davor gewarnt, zu sehr auf Grenzmassnahmen zu fokussieren. Diese machen nur Sinn, wenn das Virus auf der einen Seite nicht im Umlauf ist. Danach bringen sie nicht mehr viel.
Solche Massnahmen sind in gewissen politischen Lagern sehr beliebt. Ist die Politisierung von Corona ein Problem?
Sie sprechen hier zwei verschiedene Themen an. Massnahmen wie Grenzschliessungen sind beliebt, weil man so den Anschein wahren kann, etwas zu tun, ohne dass die eigene Bevölkerung wirklich etwas tun muss. Grenzschliessungen vermitteln, dass das Problem von aussen kommt.
Was ist das andere Thema?
Das konkrete Problem der Politisierung von Corona liegt in der Verbreitung von Falschinformationen und im Anzweifeln von wissenschaftlichen Grundlagen. Vor allem im alemannischen Bereich und Ländern wie den USA ist das ein ausgeprägtes Phänomen. Ich sage deswegen oft, dass wir nicht nur eine Pandemie, sondern auch eine «Infodemie» haben.
Was tut die WHO gegen diese «Infodemie»?
In Zusammenarbeit mit Google haben wir es zum Beispiel geschafft, dass bei einer Corona-Suchanfrage immer verlässliche Informationen der WHO oder der nationalen Gesundheitsbehörden an erster Stelle kommen.
Kommen wir zurück zu der Impfstoffverteilung. Wieso haben reiche Staaten Ihre Empfehlungen einfach ignoriert?
Die Impfgerechtigkeit ist tatsächlich ein Problem. Die Impfung aller auf der Welt, in reichen wie auch weniger reichen Ländern, ist sowohl global wie auch für jeden einzelnen Staat am besten.
Dafür wurde ja das Covax-Programm ins Leben gerufen. Welches jedoch grandios scheiterte.
So würde ich das nicht sagen. Das Glas ist sowohl halb voll als auch halb leer. Das Covax-Programm ist ein riesiger Erfolg und gleichzeitig viel zu wenig. Ja, reiche Länder haben sich neun Milliarden Dosen gesichert. Aber es wurden durch Covax auch eine Milliarde Dosen an Länder mit tiefem oder mittlerem Einkommen verteilt. Das ist ein riesiger Erfolg. Es hat noch nie eine so rasche und so solidarische Verteilung gegeben. Trotzdem, da gebe ich Ihnen recht, es ist immer noch viel zu wenig.
Die Idee hinter dem Programm war ja, dass alle Staaten ihre Impfdosen von Covax beziehen und diese so gerecht auf der ganzen Welt verteilt werden. Wieso ist es nie dazu gekommen?
Politiker werden im eigenen Land gewählt, nicht von der Weltbevölkerung. Das ist der eine Faktor.
Und der andere?
Sie müssen die Komplexität eines solchen Programms sehen. Als Vize-Direktor beim BAG war ich verantwortlich für die Beschaffung der Vogel- und Schweinegrippe-Impfungen. Schon damals haben wir versucht, eine gerechte Weitergabe zu organisieren. Gelinde gesagt entpuppte sich dies als Fiasko. Es funktionierte überhaupt nicht. Wenn ich jetzt vergleiche, wie gut und schnell dies mit Covax funktioniert hat, dann muss ich sagen: Die Weltgemeinschaft hat massive Fortschritte gemacht.
Was muss getan werden, damit es bei einer nächsten Pandemie noch besser funktioniert?
Wir arbeiten bereits jetzt an einer völkerrechtlichen Vereinbarung, damit die Verteilung im Falle einer nächsten Pandemie noch besser läuft.
Covax wurde doch auch schon vor Start der Impfkampagne ins Leben gerufen und von den meisten Staaten unterschrieben. Trotzdem krallten sich die reichen Länder dann zu Beginn alle verfügbaren Dosen. Ist die Impfgerechtigkeit nicht einfach eine Utopie?
Ist das Pariser Klimaabkommen eine Utopie? Natürlich muss man bemängeln, dass zu wenig gegen den Klimawandel getan wird. Aber ohne das Klimaabkommen würde noch weniger getan. Bei der Impfstoffverteilung verhält es sich genau gleich. Zudem: Nicht nur reiche Länder verhalten sich unsolidarisch.
Wie meinen Sie das?
Das Serum Institute of India, der grösste Impfstoffproduzent der Welt, konnte nicht mehr exportieren, weil Indien einen Exportstopp verhängt hat. Daraus haben wir gelernt, dass wir die regionale Produktion von Impfstoffen fördern müssen. Wir arbeiten bereits am Aufbau eines Zentrums in Südafrika.
Um regional produzieren zu können, müssten die Impfstoffpatente freigegeben werden. Dagegen wehren sich Pharmaländer wie die Schweiz auch schon seit über einem Jahr.
Patente sind nur ein Teil des Puzzles. Die WHO ist zwar auch der Ansicht, dass es Notfallausnahmen braucht. Gewisse Pharmakonzerne versichern zudem, dass sie ihre Patente zwar nicht freigeben, aber auch nicht einfordern werden. Aber es braucht mehr als nur eine Patentfreigabe: Es braucht gesteigerte Produktionsfähigkeiten, Technologietransfers und gestärkte Zulassungsbehörden, sodass Impfstoffe schneller eingesetzt werden können. Bei all diesen Baustellen ist die WHO ganz vorne mit dabei.
Das ist ja alles schön und gut, trotzdem werden sie vom Egoismus einzelner Staaten ausgebremst. Wieso?
Es ist eine fundamentale gesellschaftliche Frage, wieso die Politik nicht in der Lage ist, das eigentlich offensichtlich Richtige zu tun. Wir plädieren schon seit längerem dafür, den Egoismus-Begriff neu zu denken. Denn Egoismus hätte konsequent durchexerziert positive Folgen. Der egoistische Gedanke, seine eigene Bevölkerung zu schützen, würde in einer Pandemie nämlich heissen, nicht nur die eigene Bevölkerung zu impfen, sondern alle anderen auch. Ansonsten treten neue Varianten wie Omikron zutage, die den Schutz der eigenen Bevölkerung wieder gefährden.
Kommt diese Uneinsichtigkeit nicht einfach daher, dass es der WHO an Legitimation oder Macht fehlt?
An Legitimation fehlt es uns nicht. Wir sind momentan die meistzitierte Organisation in den Weltmedien. Wenn wir in einem Text zitiert werden, dann nehmen die meisten Menschen das nicht als Meinung einer Organisation mit Hauptsitz in Genf auf, sondern als Wahrheit.
Es gibt aber einen Unterschied zwischen Zivilpersonen, die Ihre Meinung als Wahrheit betrachten und einer Politik, die Ihre Meinung trotzdem ignoriert.
Das stimmt. Aber es ist nicht die Aufgabe der WHO, Politik zu machen. Unsere Aufgabe ist es, wissenschaftlich fundierte Richtlinien zu schaffen. Die Aufgabe der Politik ist es, diese Richtlinien regional angepasst umzusetzen. Ein Land mit sehr tiefen Inzidenzen wird dies natürlich anders tun als eines mitten in einer grossen Welle. Aber Sie haben recht: Nicht immer wird dies getan und ja, an Macht fehlt es uns tatsächlich. Es ist frustrierend, wenn populistische Politiker unsere Richtlinien ignorieren.
Inwiefern fehlt es Ihnen an Macht?
Die Welt ist momentan so aufgebaut, dass wir weitaus weniger Macht haben als eine Regierung beispielsweise. Wir haben zwar einen starken Einfluss, aber wir sind auch unterfinanziert und haben dementsprechend nicht genügend Ressourcen, um alles zu tun, was unser Mandat eigentlich von uns verlangt.
Ein Budget von drei Milliarden ist also zu wenig?
Der Kanton Waadt hat ein höheres Gesundheitsbudget als wir (knapp CHF 4,2 Milliarden, Anm. d. Red.). Von diesen drei Milliarden sind nur 16 Prozent Mitgliederbeiträge, der Rest setzt sich aus freiwilligen Beiträgen zusammen. Es ist also so, wie wenn es bei Ihnen brennt und die örtliche Feuerwehr erst auf Spendensuche gehen muss, bevor sie das Feuer löschen kann. Das ist ein Problem.
Wie hoch müsste das Budget der WHO Ihrer Meinung nach sein?
Es geht nicht primär darum, mehr Geld zu haben. Wir brauchen ein stabileres Einkommen. Also ein zugesichertes Budget, sodass die Hälfte unserer Belegschaft sich nicht ständig damit beschäftigen muss, Geld zu sammeln. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wenn wir mit dem Gesundheitsbudget des Kantons Waadt gleichziehen könnten, dann wären wir bereits gut aufgestellt.
Wechseln wir das Thema. Wo stehen wir momentan in der Pandemie? Sehen Sie das Licht am Ende des Tunnels auch schon?
Wenn wir als Weltgemeinschaft besser zusammengearbeitet hätten, dann könnten wir bereits in der Sonne stehen. Es ist aber immer noch so, dass nicht wir die Richtung angeben, sondern das Virus. Wir müssen unbedingt von der Vorstellung wegkommen, dass nach Omikron alles vorbei ist.
Wird es das nicht sein?
Nein. Omikron gibt es seit zwei Monaten, wir wissen nichts über Long Covid, die Spitäler sind immer noch voll, das Gesundheitspersonal ist immer noch am Anschlag. Und auch Delta ist nicht einfach weg. Selbst wenn sich die ganze Bevölkerung von Europa mit Omikron ansteckt, so kann sich das Virus in anderen Teilen der Welt immer noch weiterentwickeln. Und das wird es. Es scheint eher wahrscheinlich, dass wir noch das ganze griechische Alphabet durchmachen müssen.
Düstere Aussichten ...
Wir können aber etwas dagegen tun. Unser Ziel ist es immer noch, dass 2022 das letzte Jahr der Pandemie wird. Dafür müssen wir aber alle zusammenarbeiten. Wir müssen 70 Prozent der Weltbevölkerung impfen. Vielleicht schaffen wir es dann in eine endemische Situation.
Und mit der Endemie sind wir dann durch?
Nein. Auch das wollen viele nicht verstehen. Endemisch heisst nicht, dass alles vorbei ist. Man muss immer noch Massnahmen treffen. Medikamente für lokale Ausbrüche bereithalten, Schutzmasken und weitere Vorsichtsmassnahmen bei grösseren Personenzusammenkünften verordnen und so weiter. Die Frage ist also nicht, wann die Pandemie vorbei ist, sondern wann wir den internationalen Gesundheitsnotstand beenden können.
Werden wir dies 2022 tun können?
Wir hoffen es, aber wir können es natürlich nicht garantieren. Es ist eines unserer Hauptprobleme: Wissenschaft funktioniert so, dass man einen Wissensstand hat, der so lange gültig ist, bis er weiterentwickelt oder falsifiziert wurde. Oft wird uns deswegen vorgeworfen, dass wir falsch lagen. Aber das stimmt nicht. Was heute nach neustem Wissensstand richtig ist, kann morgen anders sein. Das heisst aber nicht, dass wir heute falsch liegen. Es heisst, dass sich die Dinge weiterentwickeln. Wenn wir jetzt aber alle an einem Strang ziehen und den staatlichen Egoismus konsequent zu Ende praktizieren, so wie ich das vorhin bereits erklärt habe, dann bin ich zuversichtlich, dass 2022 der internationale Gesundheitsnotstand beendet wird.
„Wissenschaft funktioniert so, dass man einen Wissensstand hat, der so lange gültig ist, bis er weiterentwickelt oder falsifiziert wurde. Oft wird uns deswegen vorgeworfen, dass wir falsch lagen. Aber das stimmt nicht. Was heute nach neustem Wissensstand richtig ist, kann morgen anders sein. Das heisst aber nicht, dass wir heute falsch liegen. Es heisst, dass sich die Dinge weiterentwickeln.“