Die letzte Nachricht, die der IT-Unternehmer Robert Stäheli von seiner Freundin erhalten hat, war ein Video aus dem Gefangenenbus. Die St.Gallerin Natalie Herrsche hatte am Samstag an der grossen Frauendemonstration in Minsk teilgenommen. Am 19. September um 16.23 Uhr schrieb sie aus dem Gefangenenbus: «Ich bin verhaftet!»
Das Video ist beklemmend. Zu hören ist das Geschrei der verhafteten Frauen, die im abgedunkelten Polizei-Bus ihre letzten Nachrichten ins Smartphone tippen oder sprechen. Seither hat Stäheli keinen direkten Kontakt mehr zu seiner in St.Gallen wohnenden Freundin, die im Rheintal arbeitet. Gefunden hat sie der Tübacher nur auf der Liste der Menschenrechtsorganisation Spring96, welche laufend die verhafteten Frauen im Internet publiziert.
Informationen erhält Stäheli vom Bruder der Verhafteten, einem Chirurgen. Dieser hat über den Pflichtverteidiger seiner Schwester immerhin herausgefunden, wo die gebürtige Weissrussin festgehalten wird, die vor mehr als zehn Jahren einen inzwischen verstorbenen Schweizer aus dem Appenzellerland geheiratet hat. Nach Angaben ihres Bruders ist die zweifache Mutter wegen Widerstand gegen die Polizei für schuldig befunden worden. Das Urteil lautet auf 15 Tage Gefängnis.
Pierre-Alain Eltschinger vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bestätigt die Verhaftung einer schweizerisch-weissrussischen Doppel- bürgerin. Die Schweizer Botschaft in Minsk stehe in Kontakt mit den lokalen Behörden und der Familie vor Ort.
«Sie versucht seit mehreren Tagen mit der inhaftierten Person Kontakt aufzunehmen, um ihr im Rahmen des konsularischen Schutzes Unterstützung anzubieten», sagt Eltschinger. Weitere Angaben dürfe das EDA aus Gründen des Daten- und Personenschutzes keine machen. Eltschinger ergänzt, dass dem EDA keine weiteren in Weissrussland inhaftierten Schweizer Staatsangehörigen bekannt seien.
Wie die Haftbedingungen sind, hat ihr St.Galler Lebenspartner nicht herausfinden können. Bis anhin hatte die Polizei die Frauen im Gegensatz zur massiven Gewalt gegen Männer einigermassen mit Zurückhaltung angefasst. Mit der grossen Frauendemonstration am vergangenen Samstag hat sich das geändert. Ihr Bruder versucht nun mit einer neuen, eigenen Anwältin beim ermittelnden Untersuchungsausschuss, die St.Gallerin aus der Haft zu holen oder zumindest ein Besuchsrecht zu erhalten.
Aufgewachsen ist die verhaftete Doppelbürgerin in den monotonen Plattenbauten von Orscha, rund 100 Kilometer von der Hauptstadt Minsk entfernt. Studiert hat sie Betriebswirtschaft «oder eher Planwirtschaft», wie Robert Stäheli sagt. Aufgewachsen in der Enge der Diktatur hat Herrsche die Revolution in ihrem Geburtsland «extrem bewegt».
Nächtelang versuchte sie am Handy von ihrem Bruder und Bekannten das Neuste zu erfahren. Die St.Gallerin konnte es kaum glauben, dass sich die Leute nach dieser erneuten Wahlfarce Lukaschenkos nun trauten, den Mund aufzumachen und zu demonstrieren. So gab es für Natalie Herrsche kein Halten mehr. Die gemeinsamen Tessinferien klappten nicht, Natalie Herrsche änderte ihre Pläne: «Ich gehe nach Minsk.»
Am 11. September reiste sie nach Weissrussland. In Minsk nahm sie an zwei oder drei Demonstrationen teil. In der vordersten Reihe, wie Bilder des Schweizer Fernsehens und auf YouTube zeigen, auf denen die St.Gallerin prominent zu sehen ist. «Natürlich hat sie gewusst, dass es riskant ist, an den Demonstrationen teilzunehmen», sagt ihr Lebenspartner.
Doch wer sein halbes Leben unter solcher Unterdrückung gelitten hat, müsse dabei sein, wenn sich ein Tor zur Freiheit auftut. Jetzt allerdings haben sich die Gefängnistüren geschlossen und wann die St.Gallerin wieder in der Schweiz sein wird, kann nicht gesagt werden. Und wie sie die Verhaftung und das weissrussische Gefängnis übersteht, auch nicht.
Die Haltung der Schweiz ist unverändert. Das EDA habe bereits im Anschluss an die umstrittenen Präsidentschaftswahlen am 11. August seiner Sorge über die angespannte Lage Ausdruck verliehen. «Es nutzt seine Kontakte, die es mit der Botschaftseröffnung stärken konnte. So hat Bundesrat Cassis direkt mit dem belarussischen Aussenminister telefoniert», sagt Eltschinger.
Das EDA habe sich auch bei anderen Vertretern von Weissrussland zu den dortigen Menschenrechtsverletzungen geäussert. Es habe die weissrussischen Behörden mehrmals unmissverständlich aufgerufen, die Menschenrechtsverpflichtungen zu achten, friedliche Demonstrationen zuzulassen und inhaftierte Demonstranten wieder freizulassen.