Bundesgericht
Jahrelang zu unrecht IV kassiert: Aargauer Hilfsarbeiter verstrickt sich in Widersprüche

Nach einem Arbeitsunfall wird einem jungen Aargauer eine volle Invalidenrente zugesprochen. Viele Jahre nach dem Unfall wird die Sache ein Fall für die Justiz – und kann erst vor Bundesgericht endgültig entschieden werden.

Lukas Scherrer
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Nach einem Unfall auf einer Baustelle kassierte Andreas jahrelang eine volle IV-Rente. Dies wohl viele Jahre zu unrecht. (Symbolbild)

Nach einem Unfall auf einer Baustelle kassierte Andreas jahrelang eine volle IV-Rente. Dies wohl viele Jahre zu unrecht. (Symbolbild)

Keystone

Mehr als 20 Jahre ist es her, als dieser Fall, der nun vor Bundesgericht endete, seinen Lauf nahm: Der Aargauer Andreas* arbeitet im September 1993 als Hilfsarbeiter für eine Baufirma. Während den Arbeiten auf einer Baustelle verletzt sich der damals 28-Jährige schwer.

Ein grosser Pflasterkübel, der am Tragseil eines Baukrans hängt, kracht heftig gegen Andreas' linkes Knie. Weil die Schmerzen nicht abklingen, sucht der junge Hilfsarbeiter wenige Tage nach dem Unfall auf der Baustelle einen Arzt auf. Die Diagnose: eine Läsion des Innenmeniskus, begleitet von anhaltenden Schmerzstörungen schweren Grades.

Ein Jahr nach dem Bescheid klagt Andreas nach immer über starke Schmerzen und meldet sich bei der kantonalen IV-Stelle zum Leistungsbezug an. Wie in einem solchen Fall üblich, konsultiert die Aargauer Behörde die Akten der zuständigen Unfallversicherung, trifft verschiedene medizinische Abklärungen und lässt Andreas im Oktober 1998 zum Untersuch in einer Klinik antraben. Dort kommt man zum Schluss: Andreas ist nicht mehr arbeitsfähig, ihm wird bei einem Invaliditätsgrad von 100 Prozent eine volle Rente zugesprochen.

Beschwerde gegen IV-Aufhebung

Die Jahre vergehen und Andreas bezieht regelmässig seine Rente – bis ihm die Aargauer IV-Stelle das Aufgebot zur revisionsweisen Überprüfung des Rentenanspruchs zustellt. Im Oktober 2015 muss sich Andreas im Zentrum für medizinische Begutachtung in Basel von mehreren Spezialisten untersuchen lassen. Nun gelangen die Ärzte zum Schluss: Andreas Gesundheitszustand hat sich stark verbessert, er sei in seinen alltäglichen Aktivitäten kaum bis nicht mehr eingeschränkt. Die bisher gewährte IV-Rente sei daher aufzuheben.

Diese Expertise passt Andreas überhaupt nicht. Er legt sogleich Beschwerde beim Aargauer Versicherungsgericht ein und fordert die Weiterausrichtung der Invalidenrente. Doch das kantonale Gericht schmettert seinen Einwand unter Berücksichtigung des medizinischen Gutachtens ab – der Fall landet vor dem Bundesrichter.

Widersprüchliches Verhalten

Doch auch dort beisst Andreas mit seiner Beschwerde auf Granit. Das Bundesgericht befindet: Das Aargauer Versicherungsgericht hat den IV-Anspruch zu Recht aufgehoben. Im ersten Gutachten aus dem Jahr 1998 seien psychosoziale Faktoren entscheidend gewesen und bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht abgegrenzt worden. Auf diesen Umstand hatten die Ärzte damals hingewiesen und empfahlen eine Neubeurteilung innert Jahresfrist. Dass diese Faktoren zur Beurteilung von Andreas' Arbeitsfähigkeit dennoch berücksichtigt wurden, sei zweifellos falsch gewesen, so das Bundesgericht.

Erschwerend kommt für Andreas hinzu, dass er sich bei den verschiedenen Ärzten während der revisionsweisen Untersuchung im Oktober 2015 widersprüchlich verhalten habe. So habe sich Andreas beim Rheumatologen recht zügig an- und ausgekleidet, während er dies beim Internisten mit grosser Mühe vollzog. Eine Untersuchung des Beingewebes zeigte zudem, dass Andreas sein vermeintlich verletztes Knie bereits wieder voll belaste. Schliesslich überführte ihn auch die Laboruntersuchung: Andreas hatte angegeben, täglich drei bis vier Tabletten gegen seine Schmerzen einzunehmen. Blöd nur, dass sein Paracetamolspiegel für diese Aussage viel zu niedrig ausfiel.

Die Beschwerde des Aargauers wird vom Bundesgericht klar abgewiesen und auch die Gerichtskosten in Höhe von 800 Franken werden ihm aufgebrummt. Auch Andreas' letztes Wehklagen im Gerichtssaal, dass sein Leidensdruck seit dem Unfall unverändert geblieben sei, kann am Urteil des obersten Richters nichts mehr ändern.

*Name von der Redaktion geändert