Die Geschichte ist fast nicht zu glauben: Nur zwei Monate nach ihrem Oscargewinn für den spektakulären Dokfilm «Citizenfour» über Edward Snowden befindet sich Laura Poitras schon wieder mittendrin. Im Herz der «globalen Dissidenten-Elite», im Team der «Paranoia All-Stars», wie die Journalistin Kashmir Hill schreibt. Poitras besucht mit Wikileaks-Mitglied Jacob Applebaum – er hat das Anonymisierungs-Netzwerk Tor mit entwickelt – Ai Weiwei.
Also den berühmtesten Künstler der Welt, der China seit vier Jahren nicht mehr verlassen kann, weil er keinen Pass mehr besitzt. Nachdem er zuerst verprügelt, verschleppt und sehr wahrscheinlich auch gefoltert wurde.
Poitras (50), Applebaum (32) und Ai Weiwei (57) treffen sich also vor wenigen Tagen im Auftrag der Non-Profit-Organisation Rhizome in Peking. Rhizome arbeitet mit einem New Yorker Museum zusammen und vermittelt seit Jahren Projekte zwischen Kunst und Wissenschaft. Ai Weiwei und Applebaum sollen gemeinsam Kunst machen, Poitras einen Kurzfilm darüber drehen.
Und wie schon beim Treffen von Poitras und Snowden in Hongkong ist ein einziger Journalist dabei, um alles zu dokumentieren. Bei Snowden war's Glenn Greenwald vom «Guardian», jetzt ist es Kashmir Hill, einst Technikjournalistin bei «Forbes», jetzt Autorin beim Newsportal «Fusion», an dem unter anderem Disney beteiligt ist.
Ai Weiwei ist ein Gefangener im eigenen Land. Der Kalifornier Applebaum darf als Wikileaks-Aktivist nicht mehr in sein Land, er lebt in Berlin. Wohin Ai Weiwei auch seinen sechsjährigen Sohn Ai Lao samt Mutter ins Exil geschickt hat. Zweimal täglich unterhalten sich Vater und Sohn über Facetime. Laura Poitras lebt sowieso meist in Berlin. Ist Berlin etwa der freiste Ort auf der Welt? Seit dem Oscargewinn hat sich Poitras Situation allerdings massiv verbessert, sie kann jetzt wieder die meisten Zollkontrollen auf der Welt passieren, ohne stundenlang befragt zu werden.
In Peking wohnt Applebaum, einem anonymen Business-Hotel. Auch aus «Citizenfour» kennen wir ein entsprechendes Hotel von Snowden. Applebaum installiert als erstes einen Tor-Router, der seine Überwachung verunmöglicht und benutzt ein «Cryptophone», ein Samsung-Smartphone, ausgestattet mit der härtesten Verschlüsselungstechnik, die es derzeit gibt. Ai Weiwei hat die Überwachungskameras vor seinem Haus mit roten Laternen dekoriert. Applebaum möchte sie mit Luftballons noch gründlicher stören, aber Ai Weiwei ist milder geworden, er sagt, wer wolle nun mit seiner Kunst nicht mehr so sehr provozieren, er wolle lieber endlich seinen Pass zurück.
Ai Weiwei ist seit je ein Kommunikationsgeräte- und Social-Media-Fetischist: Sei iPhone 5s hat er aus schwarzer Jade nachgebildet. Er hat in den letzten Jahren 75'000 Bilder auf Instagram und Twitter gestellt. Er ist sich sicher, dass ihn das Riesenvolumen aller Botschaften, die er kreiert, empfängt und weiterverbreitet, vor weiteren Polizeischikanen bewahrt, kein Mensch kann sie in vernünftiger Zeit bearbeiten.
Immer wieder lanciert er Hashtags, um sich Bild-Archive anzulegen: Von Nackten, von Blumen, aktuell von Velos, deren Korbanhänger mit Blumen gefüllt sind. Er selbst fotografiert am liebsten seine Katzen. Und Applebaums T-Shirt: «Fuck the NSA» steht drauf. Was sonst. Seine Instagram-Gemeinde jubelt.
Irgendwann machen die beiden schnell ein wenig Kunst, aber darüber darf Kashmir Hill nicht schreiben, denn die Kunst und Poitras Film darüber sollen schliesslich Anfang Mai bei einer Tagung in New York enthüllt werden. Vor allem aber unterhalten sie sich über das Leben unter ständiger Überwachung, und dann schlägt Ai Weiwei vor, doch schnell Julian Assange anzurufen. Der seit zwei Jahren in den ecuadorianischen Botschaft in London lebt. Natürlich hat Applebaum die Nummer von Assange auf seinem Cryptophone.
«Ich bin in Peking bei Ai Weiwei und er würde gern mit dir sprechen», sagt Applebaum zu Assange.
«Ich hoffe, wir stören Sie nicht», sagt Ai Weiwei zu Assange.
Die beiden, berichtet Hill, vergleichen die Grösse ihrer Wohnungen, die Monstrositäten des Dissidentendaseins. Ai Weiwei äussert die Hoffnung, seinen Pass sehr bald wieder zurück zu erhalten, eine Hoffnung, die er später Applebaum gegenüber resigniert dementiert.
Ai Weiweis Hoffnung blüht zwar, aber an einem kleinen Ort. Sie ist nicht viel mehr als eine Blume in einem Velokorb. Und es bleibt vom Treffen der traurigen Giganten Applebaums Fazit: «Das einzige, was all dies erträglich macht, ist, dass wir einander haben.»
P.S. Nach dem Besuch der Amerikaner, die in Berlin leben, und nach der Reportage ging der Alltag für Ai Weiwei weiter wie immer: Madonna schickte ihm eine Grussbotschaft von Rebellin zu Rebell, und westliche Menschen, die sein Atelier besuchten, zogen sich für ihn aus. Und die Katzen, die waren wie immer seine besten Freunde. von Kashmir Hill