Zumindest dieser Punkt dürfte unstrittig sein: Im Internet-Zeitalter findet sich zu jedem Thema ein Überfluss an Information, auch und erst recht zu Abstimmungsvorlagen. Es ist schier unmöglich, alle Argumente zu sammeln, zu gewichten und auszuwerten. Deshalb gewinnen Faktenchecks an Bedeutung: Anhand objektiver und belegbarer Fakten werden die Aussagen von Politikern überprüft.
Längst setzen politische Akteure auf eigene Faktenchecks – sie machen sich diesen Begriff zunutze und das Ideal der Reinheit, das von ihm ausgeht. Ihr offenkundiges Ziel: die Argumente der Gegenseite zerpflücken.
Gut beobachten lässt sich das im Abstimmungskampf um die Selbstbestimmungs-Initiative. «Die Top-6-Falschbehauptungen der SVP», nennen die in der «Allianz der Zivilgesellschaft» vereinten Gegner ihren Faktencheck. «Richtigstellung der gegnerischen Argumente», heisst das gleiche Format beim Ja-Komitee.
Im Abstimmungskampf wird mit Zuspitzungen operiert, die teils an die Grenzen des Zulässigen stossen oder teils schlicht falsch sind. Fakten entpuppen sich bisweilen als Behauptungen. Zeit für einen Faktencheck zur SVP-Initiative: acht Aussagen, acht Annäherungen an die Wahrheit.
Politiker und Beamte stellten die Selbstbestimmung «unter Berufung auf fremdes internationales Recht immer mehr infrage oder demontieren sie aktiv», kritisieren die Initianten in ihrem Argumentarium. Klar ist: Rund 5000 internationale Verträge ergänzen derzeit das Schweizer Recht, davon sind 4000 bilaterale und 1000 multilaterale Abkommen. Neben der oft angeführten Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zählt dazu etwa die Mitgliedschaft bei der Welthandelsorganisation (WTO).
Völkerrecht einfach als «fremdes Recht» zu betiteln, greift in dieser Absolutheit jedoch zu kurz. Schliesslich wird jedes Abkommen unter den beteiligten Parteien ausgehandelt. Die Globalisierung erfordere internationale Spielregeln, argumentieren denn auch die Gegner. Gerade bei Konfliktfällen könne sich die Schweiz im Schutz des Völkerrechts besser behaupten als ohne. Und ohnehin schliesse das Land nur Verträge ab, die in seinem Interesse seien.
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse sieht bei einem Ja 600 wichtige Wirtschaftsabkommen gefährdet. Als Beispiel nennt Präsident Heinz Karrer das Freihandelsabkommen mit China, das neben dem freien Warenhandel auch die freie Einreise für chinesische Erbringer bestimmter Dienstleistungen vorsieht. Er sagt: Stünde künftig der Zuwanderungsartikel in der Verfassung mit der Forderung nach Kontingenten für die Einwanderung über den internationalen Verträgen, wäre das Freihandelsabkommen mit China futsch.
Gefährdet sieht die Schweizer Wirtschaft viele Handelsabkommen auch darum, weil Volksinitiativen wie jene der Grünen zu Fair Food neue Produktvorschriften im Inland brächten und damit gegen Freihandelsvereinbarungen verstiessen.
Die SVP kontert, dass nur Verträge, die klar der Bundesverfassung widersprechen, gekündigt werden müssten. Bei den genannten Beispielen sieht sie dafür keine Grundlage. Am Ende müsste das Parlament entscheiden, ob der Normenkonflikt zwischen Verfassungsrecht und der internationalen Verpflichtung so gross ist, dass ein Abkommen gekündigt werden muss. Die Ausgangslage wäre damit nicht grundlegend anders als heute.
Die SVP bringt immer wieder zwei ihrer Initiativen vor, die sie aufgrund internationaler Verpflichtungen ungenügend umgesetzt sieht. Bei der Ausschaffungs-Initiative fügte das Parlament eine Härtefallklausel für in der Schweiz verankerte Ausländer ein, um nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zu verstossen.
Bei der Masseneinwanderungs-Initiative verzichtete das Parlament auf Kontingente für EU-Staaten, um das Personenfreizügigkeitsabkommen nicht zu verletzen. Mit dem klar definierten Vorrang des Landesrechts über das Völkerrecht will die SVP den Initiativtext künftig wortgetreu umsetzen – ohne Rücksicht auf internationale Verträge.
Die Gegner betonen hingegen die Notwendigkeit, auch in Zukunft einen Mittelweg zwischen Initiativtext und internationalen Verpflichtungen suchen zu können. Sie sagen auch: Die Selbstbestimmungs-Initiative schaffe keine Klarheit, weil weiterhin das Parlament entscheiden müsse, ob der Normenkonflikt gross genug ist, um einen Vertrag zu kündigen.
Glaubt man Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer, verliert die Schweiz bei einem Ja an Rechtssicherheit. Internationale Verträge würden mit der Selbstbestimmungs-Initiative unter einen Dauervorbehalt gestellt. So sei die Schweiz keine attraktive Partnerin mehr für andere Staaten, was insbesondere die Exportindustrie träfe, die auf den freien Handel angewiesen sei.
Die SVP bezeichnet diese Angst als übertrieben. Im Gegenteil sei es gerade die direkte Demokratie, welche die Schweiz erfolgreich gemacht habe. Es sei nicht einsehbar, weshalb die Schweiz bei internationalen Abkommen weiterhin mit dabei sein soll, wenn sich der Souverän in der Abwägung der Fakten in einer demokratischen Abstimmung dagegen ausgesprochen hat. Im Übrigen habe die Stimmbevölkerung in der Vergangenheit meist sehr wirtschaftsfreundlich abgestimmt.
«Wir haben jederzeit die Möglichkeit, einen Vertrag, den wir eingegangen sind, zu kündigen», sagte CVP-Ständerat Pirmin Bischof während der parlamentarischen Debatte. So sei die EMRK schon morgen kündbar, wenn die Fristen eingehalten würden, sagte Bischof. Die Schweiz könne dies jederzeit und für jeden Vertrag.
Dies ist in dieser absoluten Form nicht korrekt – allerdings sind unkündbare Verträge selten. Als solche gelten beispielsweise Grenzverträge, weil die Vertragsparteien davon ausgehen, dass die vereinbarten Grenzen unverrückbar sind. Die Schweiz kennt bei Vertragsabschlüssen prinzipiell eine starke demokratische Mitsprachemöglichkeit. Bedeutende völkerrechtliche Verträge wie die EU-Waffenrichtlinie unterstehen dem fakultativen Referendum. Dieses ist bei völkerrechtlichen Verträgen gegeben, wenn sie «wichtige rechtsetzende Bestimmungen» enthalten. Ein Beitritt zur EU müsste gar zwangsläufig vors Volk, da er dem obligatorischen Referendum untersteht.
Steht ein Vertrag aufgrund seiner Bedeutung auf der gleichen Stufe wie die Bundesverfassung, untersteht er dem obligatorischen Referendum. Keine direktdemokratische Mitsprache gibt es bei Verträgen, die rechtlich unverbindlich, aber politisch bindend sind und dem sogenannten «Soft law» angehören. In diese Kategorie fällt der derzeit umstrittene UNO-Migrationspakt, der nicht dem Referendum untersteht, aber auch keine direkte Rechtswirkung hat.
Es ist eines der Hauptargumente der SVP: Ihre Initiative verwirkliche lediglich das, was anderswo bereits üblich sei. «Kein anderer Staat auf der Welt» gehe davon aus, dass das internationale Recht der eigenen Verfassung vorgehe, sagte SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt schon während der parlamentarischen Beratungen. Das Bundesamt für Justiz hat diese Frage in einem Gutachten beleuchten lassen. Und tatsächlich: Keines der untersuchten Länder kennt pauschal ein «mechanisch anzuwendendes Primat des Völkerrechts». Vogts Aussage stimmt also.
Auch wenn niemand internationales Recht ausdrücklich vor nationales Recht stellt, lassen sich die Staaten jedoch nicht eins zu eins vergleichen. In seiner Botschaft zur SVP-Initiative verweist der Bundesrat auf ein Gutachten aus dem Jahr 2010. Tenor darin: Die Schweiz pflege einen ähnlichen Umgang mit dem Völkerrecht wie in den untersuchten Staaten, darunter Deutschland und Frankreich.
Der Unterschied ist aber, dass in diesen Ländern ein Verfassungsgericht sicherstellt, dass das Parlament kein Gesetz beschliesst, das Menschenrechte verletzt. In der Schweiz gibt es keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Bundesgericht kann deshalb bei menschenrechtsverletzenden Gesetzen im Grunde nicht eingreifen. Nur wenn es Bezug nimmt auf die EMRK, die mit den Grundrechten der Bundesverfassung fast identisch ist, kann es intervenieren. Damit wird es in diesem Bereich zum Quasi-Verfassungsgericht. Die EMRK hat in der Schweiz eine grössere Bedeutung für den Schutz der Menschenrechte als anderswo.
Die Selbstbestimmungs-Initiative hat einen konkreten Auslöser. Im Jahr 2012 hob das Bundesgericht die Ausschaffung eines kriminellen Mazedoniers auf, trotz der bereits angenommenen Ausschaffungs-Initiative. Diese will im Kern, dass kriminelle Ausländer bei gewissen Delikten automatisch ausgeschafft werden. Die Lausanner Richter verwiesen auf übergeordnetes Recht.
Die EMRK gehe im Konfliktfall auch der Bundesverfassung vor. Bei der SVP war der Ärger darüber gross. Zuvor sei man sich einig gewesen, dass eine Bestimmung der Bundesverfassung einem internationalen Vertrag vorgehe, schreibt sie im Argumentarium zu ihrer Initiative. «Erst mit einem folgenschweren Urteil des Bundesgerichts 2012 wird dies infrage gestellt und das internationale Recht vor das Schweizer Recht gestellt.» Bei Bundesgesetzen jedoch hat das Bundesgericht schon zuvor das Völkerrecht höher gewichtet.
Zivilgesellschaftliche Gruppen wie Amnesty International oder Caritas sind überzeugt: Ein Ja zur Selbstbestimmungs-Initiative gefährde den Schutz der Menschenrechte in der Schweiz. Von ungefähr kommt diese Befürchtung nicht. Mit der Initiative könnten Schweizer Gerichte die Europäische Menschenrechtskonvention nicht mehr heranziehen, wenn sie einem Schweizer Gesetz widerspricht. Hinzu kommt: Widerspricht eine angenommene Volksinitiative einer Bestimmung der Menschenrechtskonvention, müsste die Schweiz die EMRK «nötigenfalls» künden.
SVP-Nationalrat und Initiativvater Hans-Ueli Vogt relativiert: Einzelne abweichende Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte rechtfertigten eine Kündigung nicht. «Das Gericht könnte in einem Einzelfall zum Beispiel die Ausschaffung eines kriminellen Ausländers beschliessen, obwohl dies der EMRK widerspricht», sagt er. Damit ruft Vogt indirekt zum Vertragsbruch auf – etwas, das schlecht zur vertragstreuen Schweiz passt. Zudem stiege die Gefahr, dass eine Mehrheit in der Schweiz Gesetze schafft, die eine religiöse, ethnische oder sexuelle Minderheit diskriminieren. (aargauerzeitung.ch)