Leute, was ist los? Habt ihr alle von einem Zaubertrank des helvetischen Selbstbewusstseins gekostet? Oder bilde ich mir nur ein, dass die Schweiz mit einer auffallenden Selbstverständlichkeit und irrem Erfolg Schweizer Stoffe in die Kinos spült? Lernt sich da ein Land von einer neuen Seite kennen? Ist es neugierig auf sich selbst und auf Menschen aus Winkeln, die nicht dem Mainstream entsprechen? Der kaputten Junkie-Mutter aus «Platzspitzbaby». Dem durchgeknallten Regenwald-Ritter Bruno Manser.
Doch bevor ich mich wieder dem Phänomen des Schweizer Erfolgsfilms widme, lasst mich ganz schnell und unverhohlen Sarah Spale loben: Was für eine verdammt gute Schauspielerin! Egal ob minimalistisch reduziert und cool wie in «Wilder» oder jenseits jeder Zurechnungsfähigkeit in «Platzspitzbaby». Abseits von Spale ist am aktuellen Schweizer Lieblingsfilm einiges purer Kitsch (bitte, hört auf damit, Kindern imaginäre Freunde an die Hand zu geben!), aber sie ist phänomenal sehenswert. So, genug gelobt.
Wenn es um Schweizer Filme geht, kennt das Schweizer Publikum drei Lieblingsthemen: Historie und reale Schicksale; Literatur-Verfilmungen, insbesondere solche von Kinderbüchern; Komödien. Schauen wir uns einmal an, wer denn da im ersten Fünftel des 21. Jahrhunderts alles so richtig erfolgreich war:
*Angezeigt wird das Jahr, in dem der Film ins Kino kam, nicht das Produktionsjahr.
Quellen: procinema.ch und Bundesamt für Statistik
Die Machart darf dabei ganz konventionell sein, es wird nicht nach grosser Kinokunst gefragt, und das Drehbuch braucht nicht über einen guten Fernsehfilm hinauszugehen. Auch der lange Zeit gefürchtete Stadt-Land-Graben ist hinfällig geworden, die Schönheit der Berge war in den Städten eh schon immer beliebt, und der Schauplatz Zürich ist endlich auch kein Hinderungsgrund mehr für einen Filmerfolg im Landkino.
Es zählen Erinnerungen an die «Heidi»- oder «Wolkenbruch»-Lektüre oder an den Zürcher Platzspitz, der jahrelang die offene Wunde von Zürich war.
Töchter können ihre Mütter fragen, ob das 1971 mit der Einführung des Frauenstimmrechts wirklich so war wie in «Die göttliche Ordnung». Der kollektive Schmerz über das Ende der Swissair bricht bei «Grounding» noch einmal auf. Väter und Söhne tauschen angesichts der «Achtung, Fertig ...»-Filme ihre RS- und WK-Storys aus, und Grosis träumen bei den «Herbstzeitlosen» von einem dritten Frühling. Es geht um eine Schweiz der Herzen und der Schmerzen. Um Kindheitsglück und komische Erleichterung.
Geliebt werden: angeschlagene Goalies, Junkies, alte Landfrauen, kurlige Polizisten, bünzlige Beamte, jüdische und militärische Jungs mit Mädchensorgen, arme Berg- und andere Kinder. Und: Alle sind weiss und reden Mundart (mit Ausnahme der «Schwarzen Brüder»).
Es könnte gut sein, dass Micha Lewinsky jetzt mit dem Start von «Moskau einfach» noch so ein Hit gelingt. «Moskau einfach» ist erstens «Schweizermacher Reloaded», und kein Schweizer Film wurde bisher öfter im Kino gesehen als Rolf Lyssys «Schweizermacher» aus dem Jahr 1978, nämlich 942'000 Mal.
Lyssy erzählte die Geschichte eines Polizisten (Emil), der für die Einbürgerungsbehörde Leute überwacht und sich in eine Tänzerin verliebt. Lewinsky erzählt die Geschichte eines Polizisten (Philippe Graber), der 1989 als Spitzel ins Zürcher Schauspielhaus eingeschleust wird, um vermeintlich linke Machenschaften zu observieren, und sich in eine Schauspielerin verliebt.
Beide Bullen sind von Natur aus mit der Bürokratie verheiratete Biedermänner, aber die Liebe lässt sie locker werden. Und der Bespitzelungsfuror, den so ein Einbürgerungsverfahren der 70er-Jahre in den «Schweizermachern» entfalten konnte, findet sich jetzt sehr schön reproduziert in der Fichenaffäre von «Moskau einfach».
Zweitens hat der Zufall diese Woche für «Moskau einfach» den denkbar besten Teppich zum Start ausgerollt: Cryptoleaks ist passiert. Und Cryptoleaks ist sowas wie die Fichenaffäre in weltgeschichtlicher Dimension. Was 1989 der Schweizer Staatsschutz war, ist heute die CIA. Wer sich für das Thema interessiert, sieht es in «Moskau einfach» quasi in mikrokosmischer Form vorweggenommen. Jedenfalls in der ersten Hälfte. Die ist super. Da sehen wir das ganze komische Blendwerk, das der Staatsschutz auffährt, um zu seinen Erkenntnissen zu gelangen. Der zweite Teil entscheidet sich leider zu sehr für die Liebe.
Doch wie viele andere Schweizer Filme gibt es eigentlich pro Jahr neben diesen Erfolgsvehikeln? Zehn? Zwanzig? Und wie viele Filme kommen jedes Jahr überhaupt ins Kino? Im Jahr 2018 – da liegen alle Zahlen vor – kamen 507 neue Filme in die Schweizer Kinos, davon waren 89 aus der Schweiz. Und dies waren auch nur 89 aus ingesamt 106. 39 Spiel- und 67 Dokumentarfilme. Im Vergleich: 1970 gab es 22 Schweizer Langfilme, 12 waren Spiel, 10 Dokumentarfilme.
Alle 507 zogen insgesamt 12'090'305 Zuschauerinnen und Zuschauer an, die 89 aus der Schweiz 769'326, wobei 241'157 von ihnen «Wolkenbruch» schauten, der damit allgemein der meistbesuchte Film des Jahres war. Weitere Schweizer Filme folgen mit weitem Abstand, auf Platz zwei «Papa Moll» mit 67'725, auf Platz drei der Dokumentarfilm «#Female Pleasure» mit 39'431 Eintritten (nach 2018 kamen noch viele dazu).
Leidet die Schweiz unter einer Überproduktion? Einer unfokussierten Förderpolitik? Sind wir grössenwahnsinnig? Oder anders gefragt: Wie sieht das in andern Ländern aus? Nehmen wir wieder das Jahr 2018. Da kamen in Deutschland genau 247 deutsche Spiel- und Dokumentarfilme ins Kino. Obwohl Deutschland fast zehn Mal grösser ist als die Schweiz. Im ebenfalls kleinen Dänemark kamen 2018 genau 36 einheimische Spiel- und Dokumentarfilme ins Kino.
Ja, die Schweiz ist grössenwahnsinnig. Unendlich viele Filme haben bei uns unendlich wenig Publikum und weder eine Festival- noch eine Kinokarriere.
Angenommen, «Bruno Manser» hat euch gefallen, so versucht, euch irgendwo «Amateur Teens» von «Manser»-Regisseur Niklaus Hilber zu besorgen. Und wenn euch dort die Schauspielerin Luna Wedler auffällt, so schaut euch «Blue My Mind» von Lisa Brühlmann an.
Und wenn ihr «Platzspitzbaby» mögt, so sucht unbedingt nach «Recycling Lily» von «Platzspitz»/«Wilder»-Regisseur Pierre Monnard. Eine schräge, surreal ausgestattete Komödie, die sich wieder ins urschweizerische Trauma der Überwachungsgesellschaft einfädelt: Ein ultrabiederer Müllinspektor verliebt sich in eine Messie-Frau ... Und dann gräbt einfach weiter. Zum Beispiel bei Monnards welschen Kolleginnen und Kollegen. Oder gönnt euch eine punkige Berner Platte, die zum «Goalie» passt, mit Juri Steinharts «Lasst die Alten sterben». Go for Gold! Es gibt funkelnde Schätze zu heben!