Mit 14 schrieb ich die Playmobil-Goldmine auf meinen Wunschzettel für Weihnachten. Mein Vater kam zu mir ins Zimmer, er fragte mich, ob ich mir da sicher sei, ich sei ja immerhin schon 14 Jahre alt. Ich wurde wütend und sagte ihm, er solle nicht so saublöd fragen. Sicher sei ich mir sicher. Schliesslich sei ich 14.
Ich bekam die Goldmine. Aber als ich die Figuren in die Hand nahm, starben sie mir unter den Fingern weg. Sie waren leer geworden und ich konnte sie mit nichts mehr füllen. Ich sah sie zum ersten Mal als das, was sie tatsächlich waren – kleine Männchen aus Plastik.
«O Stunden in der Kindheit,
da hinter den Figuren mehr als nur Vergangnes war
und vor uns nicht die Zukunft.
Wir wuchsen freilich und wir drängten manchmal,
bald gross zu werden, denen halb zulieb,
die andres nicht mehr hatten, als das Grosssein.
Und waren doch, in unserem Alleingehn,
mit Dauerndem vergnügt und standen da
im Zwischenraume zwischen Welt und Spielzeug,
an einer Stelle, die seit Anbeginn
gegründet war für einen reinen Vorgang.»
Rainer Maria Rilke «Duineser Elegien»
Ich bedauere diesen Verlust bis heute. Nicht, dass mir mein Spieltrieb gänzlich abhanden gekommen wäre, aber es fühlte sich nie wieder so bedingungslos, so beseelt an wie als Kind.
Und seit ich das wunderbare Buch «Rettet das Spiel» (2016) vom Neurobiologen Gerald Hüther gelesen habe, das er zusammen mit dem Philosophen Christoph Quarch schrieb, ist mir auch klar, warum:
Ein Spielzeug in der Hand eines Kindes ist eben nicht einfach ein Gegenstand, es ist ein Du. Alles in der Welt der kleinen Menschen lebt. Es ist reine Selbstvergessenheit – und darum vollkommen frei. Es ist die ungezwungene Art, wie Kinder ihre Erfahrungen machen, wie sie lernen.
Denn das menschliche Gehirn ist bei der Geburt noch völlig unausgebildet. Nichts kann es gut, dafür alles ein bisschen. Und so spielt sich das Kind durch sein noch unbekanntes Leben, und testet seine viele Möglichkeiten aus.
Doch irgendwann hört das Kind mit dem Spielen auf. Und zwar dann, wenn es von den Erwachsenen korrigiert und belehrt, wenn «wir es zum Objekt unserer Erziehungs- und Bildungsmassnahmen machen», wie die Autoren schreiben. So verliert das Kind seine ursprüngliche Lust, selbst zu denken, selbst zu gestalten. Es wartet nur darauf, dass es gesagt bekommt, wie etwas geht, wann und wie es etwas machen soll. Und ist niemand da, der ihm das sagt, wird ihm ganz schnell langweilig.
Das ist der Punkt, an dem das Kind sich in einen Konsumenten verwandelt. Denn da draussen warten allerlei Produkte, die ihn ablenken oder unterhalten sollen. Die meisten dieser Angebote nennen sich Spiele, sind aber laut den Autoren keine mehr. Weil sie nicht mehr dem lustvollen Entdecken dienen, sondern sich unter einem ganz anderen Grund in unsere Welt eingeschlichen haben: dem des Profitmachens. Gewisse Games wurden extra daraufhin designt, den emotionalen Zustand der gelangweilten Kinder und Jugendlichen auszunutzen – und sie abhängig zu machen.
So sehr, dass nicht mehr sie selbst den Rhythmus ihres Lebens bestimmen, sondern das Spiel, das möglichst ins Unendliche ausgedehnt wird, das keine feststehende Spielzeit, keine Grenzen mehr kennt.
Andere füttern die Spielautomaten in den Kasinos, den Hallen pervertierter Glücksspiele. Für viele Spieler geht es hier nicht mehr ums Spiel an sich, nicht ums Gewinnen, sondern nur um den Gewinn. Dieser liegt ausserhalb des Spiels – und verspricht mehr Erfolg, mehr Ansehen, mehr Geld. Darum tritt die verhängnisvolle Krankheit der Spielsucht auch nur da auf, wo Spiele ökonomischen Interessen dienstbar gemacht werden, schreiben Hüther und Quarch.
Das Spiel, dem unser Zeitalter in unvergleichlichem Masse huldigt, ist der Fussball. Er schafft es, Menschen weltweit quer durch alle Bildungs- und Altersschichten hindurch zu begeistern. All die roten Köpfe im Stadion, die Schiribeleidigungen, Torschreie und Tränen. Überall nichts als pure Lebendigkeit. Hier ist der Zuschauer noch nicht zum stummen, passiven Rezipienten geworden. Hier fiebert er mit wie ein Kind beim Kasperlitheater, das die böse Hexe beschimpft.
Doch gerade seine Beliebtheit macht den Fussball so attraktiv für monetäre Machenschaften: Die totale Vermarktung des Fussballs, die Enthüllungen rund um den Weltfussballverband FIFA, die Werbebanderolen im Stadion, die Logos auf den Trikots der Spieler – das alles zeigt, wie sehr der Spielbetrieb bereits vergiftet worden ist.
Allein das Spielgeschehen bleibt noch frei davon. Hier gelten noch immer dieselben Regeln. Hier zeigt sich noch immer der wahre Spielgeist – abgesehen von einigen Saumoden wie der «Rudelbildung», «sich irgendeinen individuellen Scheiss auf die Schuhe nähen», «beknackte Frisuren» und sonstiges unangemessenes Divengehabe.
Willkommen im Zeitalter des Homo oeconomicus. Er lebt in jedem von uns. Deshalb haben wir fast verlernt, richtig zu spielen. Unsere Spielplätze sind zu Märktplätzen verkommen. Wir lassen es zu, dass aus dem einst spielerischen Wettbewerb bitterer Ernst wird. Dass wir keine Mitspieler oder Gegner, sondern nur noch Konkurrenten kennen.
Der Homo oeconomicus wurde im England des 18. Jahrhunderts geboren, wo man den Menschen als rationalen Egoisten zu verstehen begann, getrieben von Machtstreben und Eitelkeit. Adam Smith verkündete, dass die Selbstsucht keinesfalls ein Laster sei, sondern eine produktive Kraft – mit enormer ökonomischer Potenz.
Er hatte recht. Und so hetzen wir heute mit unseren effizient organisierten, stets auf Sicherheit bedachten Gehirnen durch unsere Leistungsgesellschaft, die uns mit ihren Anforderungen schier erdrückt und unsere Kreativität zum Ersticken bringt.
Doch diese Denkweise können wir auch wieder zerschlagen. Wie viele Male haben die Menschen sich schon geirrt. Von der Erfindung des Flugzeugs haben sie sich mehr Frieden und Zusammengehörigkeit versprochen, doch als erstes trat es in den Dienst des Krieges. Alles kann einem bösen oder guten Zweck zugeführt werden. Darum rufen die Autoren dazu auf, das Spiel zu retten. Es soll unverfälscht und frei von ökonomischer Instrumentalisierung bleiben.
Das ist es, wenn Menschen zusammenkommen, um zu jassen zum Beispiel. Wenn wir unsere Geschicklichkeit beim Jonglieren unter Beweis stellen. Wenn wir gegeneinander boxen, Eishockey oder eben Fussball spielen. Wenn wir in Rollen schlüpfen und ein Krimidinner veranstalten. Das wesentliche am Spiel ist, dass es sich selbst genügt. Dass es zeitlich und örtlich begrenzt ist und einem klaren Regelwerk folgt. So definieren Hüther und Quarch das wahre Spiel.
Ist dies der Fall, dann feuern unsere Belohnungszentren im Hirn drauflos, wir verspüren Freude. Der Sauerstoffverbrauch verringert sich, weil die Aktivität der Nervenzellverbände in der Amygdala gering ist. Das ist die Hirnregion, die sich einschaltet, wenn wir Angst haben. Wir fühlen uns von nichts bedrängt. Dieses Feuerwerk der Lebensfreude zeichnet der Kernspintomograph, wenn er ein spielendes Gehirn durchleuchtet.
Das Spiel ist es auch, durch das unser Gehirn stückweise wächst:
Wir kommen mit einem Überschuss an Vernetzungsoptionen auf die Welt. Wirklich verschaltet werden aber nur diejenigen Zellen, die regelmässig aktiviert werden. Durch unsere Erfahrungen formen sich nun bestimmte Nervenbahnen aus, werden zu Trampelpfaden, dann zu Strassen, am Ende zu Autobahnen. Diese bekannten Denkmuster wieder zu verlassen, ist schwierig.
Das Spiel aber schafft es, unser Gehirn zu düngen, sodass sich neue Synapsen ausbilden und allmählich stabilisieren können. Diese neue Verknüpfungen, die in jedem Menschen angelegt sind, sind die Voraussetzung für neue Ideen. Für kreative Einfälle. So gelingen uns sogenannte «breakthrough innovations», wahrhafte Neuerungen, so wie es der Verbrennungsmotor einst war. Der Homo oeconimicus aber verbessert das Urautomobil bloss, er macht es besser, effizienter, schneller. Aber er erfindet kaum etwas Neues – so die beiden Autoren.
Denn was dieser Menschentypus am liebsten spielt, sind Machtspiele. Die einen spielen sie richtig gut, bekommen dafür Anerkennung und füllen damit ihre leere Seele. Die anderen verlieren – und sehen sich als Opfer des Systems. Wirklich glücklich sind die wenigsten.
Vielleicht haben wir tatsächlich verlernt, unser eigenes Leben zu gestalten. Viel zu oft wandeln wir Objekten gleich durch die Welt und werden bewertet, belehrt, gemassregelt, manchmal belohnt und gelobt. Doch wirklich wertgeschätzt fühlt man sich in so einem System nicht.
Und während sich viele nach Lebendigkeit sehnen, verdammen andere ausgerechnet das, was uns diese wiedergeben würde: das Spiel. Sie sagen, es sei Zeitverschwendung. Kinder sollten besser früh in Englisch und Biologie gefördert werden. Es gehöre zum Erwachsenwerden nun mal dazu, machen zu müssen, was andere von einem verlangen. Das Leben sei schliesslich kein Ponyhof.
Denn wer im Neoliberalismus versagt, versagt total. Eine solche Ideologie durchdringt den ganzen Menschen. Verliert einer darin, muss er sich wertlos fühlen. Darum solle man möglichst früh lernen, wie der Hase läuft. Darum solle man die Kinder von den Spielplätzen zerren und in die Frühförderung stecken. Damit sie möglichst schnell lernen, wie der Hase läuft. Denn wer will schon, dass sein Kind ein Verlierer wird – so die eiserne Logik unseres Systems.
Genau deshalb rufen die Herren Hüther und Quarch dazu auf, das Spiel zu retten:
Letzte Weihnachten hat mir mein Freund ebendiese Playmobil-Goldmine geschenkt, die ich mit 14 bekam. Baujahr 1994. Ich hab ein bisschen weinen müssen über dieses Stück Kindheit, das er mir da zurückgeben hat.
Dann habe ich vier Stunden lang mit meinem bald 40-jährigen Bruder damit gespielt. Viel daran war höchst inkorrekt. Und vorrangig ging es um Fäkalien. Schliesslich sind wir erwachsen.