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Erobert, deportiert, diskriminiert – das bittere Schicksal der Krimtataren

Demonstrierende Krimtataren schwenken ihre Flagge und zeigen ein Spruchband mit der Aufschrift «Die Krim ist das Heimatland der Krimtataren». 
Demonstrierende Krimtataren schwenken ihre Flagge und zeigen ein Spruchband mit der Aufschrift «Die Krim ist das Heimatland der Krimtataren». Bild: AP
Minderheit im eigenen Land

Erobert, deportiert, diskriminiert – das bittere Schicksal der Krimtataren

Die Krimtataren sollen nach dem Willen der prorussischen Regionalregierung Teile ihres Landes verlassen. Diese Umsiedlungspläne dürften alte Wunden aufreissen: Das schlimmste Trauma des Turkvolkes ist die brutale Deportation nach Sibirien 1944.
20.03.2014, 10:3225.06.2014, 15:22
Daniel Huber
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Kaum hat sich die Autonome Republik Krim in einem hastig angesetzten Referendum von der Ukraine losgesagt und Russland angeschlossen, reibt die prorussische Regierung der Halbinsel Salz in die Wunden der krimtatarischen Minderheit. Man werde die Tataren darum bitten, einen Teil ihres Landes aufzugeben, sagte Vize-Ministerpräsident Rustam Temirgaliyev laut der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti.

Als Ersatz werde Land in anderen Teilen der Region bereitgestellt, versprach Temirgaliyev. Doch nur schon der Gedanke an eine Umsiedlung muss die Krimtataren – die klar gegen den Anschluss der Krim an Russland Stellung bezogen haben – unweigerlich an die schlimmste Katastrophe ihrer Geschichte erinnern: 1944 liess Sowjetdiktator Josef Stalin nahezu das gesamte krimtatarische Volk nach Zentralasien deportieren. 

Deportation von Krimtataren 1944 
Deportation von Krimtataren 1944 Bild: qirim.kiev.ua

Stalins Rache

Stalins Deportationsbefehl kostete zwischen 22 und 46 Prozent der Krimtataren das Leben. 

Die Deportation fand kurz nach der Rückeroberung der Krim durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg statt. Als Vorwand diente die Kollaboration zahlreicher Krimtataren mit der Wehrmacht. In nur drei Tagen pferchten die Russen etwa 190'000 Menschen in Züge und verfrachteten sie unter entsetzlichen Bedingungen nach Zentralasien. Zehntausende fanden während des Transports den Tod; Zehntausende verhungerten danach in Sibirien. Zwischen 22 und 46 Prozent der gesamten krimtatarischen Bevölkerung kamen schätzungsweise ums Leben. 

Karte der Deportationen in der Sowjetunion, 1941-1945. Die Krimtataren waren nicht die einzige Ethnie, die Stalin nach Sibirien deportieren liess. 
Karte der Deportationen in der Sowjetunion, 1941-1945. Die Krimtataren waren nicht die einzige Ethnie, die Stalin nach Sibirien deportieren liess. Karte: PD

Stalins Rache war der Tiefpunkt einer jahrhundertelangen, über weite Strecken feindseligen Beziehung zwischen Russen und Ukrainern auf der einen und Krimtataren auf der anderen Seite. Nicht immer waren letztere dabei wie 1944 die Opfer –  in den Anfängen war das Kräfteverhältnis umgekehrt. 

«Ernte der Steppe» – tatarische Sklavenjagd

Die Krimtataren entstanden vermutlich aus einem Völkergemisch: Griechen, Iraner, Hunnen, Krimgoten und andere Ethnien lebten schon lange auf der Krim, als Mitte des 13. Jahrhunderts im Zuge der mongolischen Eroberung die Turkvölker der Kiptschaken und Tataren aus der eurasischen Steppe auf die Halbinsel kamen. Sie bildeten wohl den Kern der krimtatarischen Ethnie, deren wichtigstes identitätsstiftendes Merkmal der sunnitische Islam war. 

Nach dem Zerfall der mongolischen Goldenen Horde, die Russland zwei Jahrhunderte lang beherrscht und ausgeplündert hatte, entstand um 1430 auf der Krim ein eigenes Khanat. Es umfasste auch die südlichen Gebiete der heutigen Ukraine, musste aber schon 1475 die Oberhoheit des Osmanischen Reiches anerkennen.  

Bis zu drei Millionen Menschen wurden von den Krimtataren in die Sklaverei verschleppt.

Mit osmanischer Rückendeckung überzogen die Krimtataren die Ukraine und Südrussland während Jahrhunderten mit Raubzügen, «Ernte der Steppe» genannt, bei denen sie Jagd auf Menschen machten, um sie als Sklaven zu verkaufen. Bis zu drei Millionen Männer, Frauen und Kinder, so schätzen Historiker, wurden vom 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert in die Sklaverei verschleppt. Ganze Landstriche verödeten. 

Die Krim wird russisch

Diese Plünderungen verkrüppelten Osteuropa und trugen zur Entstehung der russischen Wehrbauern, der Kosaken, bei. Die dauerhafte Besiedlung der südlichen Ukraine fand deshalb erst spät statt – etwa zeitgleich mit jener der Great Plains in den USA und Kanada. 

Gemälde von Józef Brandt: Kosaken im Kampf gegen Krimtataren (1890). 
Gemälde von Józef Brandt: Kosaken im Kampf gegen Krimtataren (1890). Bild: Wikipedia/PD

Das unter Peter dem Grossen erstarkte russische Zarenreich drängte die Krimtataren zurück – der russische «Drang zum warmen Meer» verband sich mit dem Wunsch nach Vergeltung. Erst den Truppen der Zarin Katharina der Grossen gelang es jedoch, die Gefahr von der Krim endgültig zu bannen und das Krimkhanat 1774 den Osmanen zu entreissen. Es wurde ein russisches Protektorat; 1783 annektierte das Zarenreich die Krim endgültig. 

Die Russen holten Siedler aus ganz Europa auf die Krim. Die Krimtataren wurden zur Minderheit im eigenen Land.

Die Russen holten Siedler aus ganz Europa ins Land, darunter viele deutsche Kolonisten (deren Nachkommen dann von Stalin vertrieben wurden). Zahlreiche Krimtataren wurden enteignet oder auf unfruchtbare Böden verdrängt; Zehntausende verliessen in zwei grossen Auswanderungswellen in den 1790er und 1850er Jahren ihre Heimat und zogen in Provinzen des Osmanischen Reiches. 

Aufnahme von Krimtataren von Jean Raoult, zwischen 1860 und 1880. 
Aufnahme von Krimtataren von Jean Raoult, zwischen 1860 und 1880. Bild: New York Public Library/PD

Antirussischer Reflex

Die Lage ihrer auf der Krim zurückgebliebenen Landsleute war prekär: Allmählich wurden sie zur Minderheit im eigenen Land; als Muslime und jahrhundertelange Feinde galten sie überdies als unzuverlässig. In der Tat sympathisierten sie stets mit den Gegnern Russlands; so im Krimkrieg, im Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 oder im Ersten Weltkrieg. Der antirussische Reflex spielte auch im Zweiten Weltkrieg und förderte die Kollaboration mit den deutschen Invasoren, was dann Stalins Rache nach sich zog. 

Prozentualer Anteil der Krimtataren an der Bevölkerung der Krim, 1939.
Prozentualer Anteil der Krimtataren an der Bevölkerung der Krim, 1939.Grafik: Wikipedia/PD

Die Verbannung der Krimtataren nach Sibirien dauerte weit über den Tod des Tyrannen im Jahr 1953 hinaus. Erst 1967 wurden sie rehabilitiert, jedoch ohne dass man ihnen die Rückkehr in die Heimat erlaubt hätte. Dazu kam es erst 1988, als in der Sowjetunion unter Parteichef Michail Gorbatschow Tauwetter eingesetzt hatte. 

Ungeliebte Heimkehrer

Gut 250'000 Krimtataren kehrten seither auf die Krim zurück, die unterdessen zur ukrainischen Sowjetrepublik gehörte. Die slawische Bevölkerung der Krim begrüsste ihre Heimkehr allerdings nicht. Die Rückkehrer konnten nicht in ihren alten Siedlungsgebieten sesshaft werden, sondern verteilten sich auf der gesamten Halbinsel. Etwa 150'000 Krimtataren blieben in Usbekistan und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion zurück. 

Prozentualer Anteil der Krimtataren an der Bevölkerung der Krim, 2001
Prozentualer Anteil der Krimtataren an der Bevölkerung der Krim, 2001Grafik: Wikipedia/Riwnodennyk
Heute machen die rund 280'000 Krimtataren etwa zwölf Prozent der Bevölkerung auf der Krim aus. 

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurden die Krimtataren zu Staatsbürgern der unabhängigen Ukraine. Ihr nach wie vor lebendiger antirussischer Reflex machte sie zu natürlichen Verbündeten der ukrainischen Nationalisten, die den Separatismus der mehrheitlich russischen Krim fürchteten. Kiew anerkannte ihr Idiom als eine der drei offiziellen Sprachen der Autonomen Republik Krim.

Mit der militärisch flankierten Rückkehr der Krim in den Schoss von Mutter Russland verlieren die heute rund 280'000 Krimtataren – neben 60 Prozent Russen und 24 Prozent Ukrainern machen sie etwa zwölf Prozent der 2,5 Millionen Bewohner der Krim aus – den Schutz der Kiewer Regierung. Die Erinnerung an Deportation und Diskriminierung lässt sie von Moskau wenig Gutes erwarten. 

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Beten und hoffen: Krimtataren beim Freitagsgebet in einer Moschee nahe bei Sewastopol 
Beten und hoffen: Krimtataren beim Freitagsgebet in einer Moschee nahe bei Sewastopol Bild: AP Photo/Andrew Lubimov
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