Während sich Europas Bevölkerung angesichts der rapiden Ausbreitung des Coronavirus in ihren Wohnungen und Häuser zurückzieht, die Empfehlungen der Regierung befolgt und hofft, die Coronakrise so schnell wie möglich zu überstehen, droht in Griechenland einmal mehr eine humanitäre Katastrophe.
In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Samos leben insgesamt 42'000 Flüchtlinge in prekären Bedingungen – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der erste Coronafall auftritt. Sibylle Berger, Delegierte bei Ärzte ohne Grenzen, fordert deshalb: «Es muss eine Evakuierung der Lager auf den Inseln geben – und zwar so schnell wie möglich.»
watson hat mit drei Leuten gesprochen, die seit längerer Zeit regelmässig auf den griechischen Inseln sind – ein Politiker, eine Pflegerin und ein Flüchtlingshelfer – und die über die Verhältnisse Bescheid wissen.
Sie alle sind sich einig: Die Flüchtlingslager, vor allem Moria auf Lesbos, sind alles andere als gewappnet. Sollte sich das Virus in den überfüllten Camps ausbreiten, bricht die medizinische Versorgung schnell zusammen.
Maria kommt gerade von einer Tour durch das Lager Moria. Sie hat im Camp Seife verteilt – als Prävention gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Nur gestaltet sich das schwierig in einem Camp, in dem es einen Wasserhahn auf 1300 Leute gibt und in vielen Teilen des Lagers gar kein Wasserzugang existiert. «Viele Menschen fragten mich: ‹Was soll ich mit der Seife, wir haben ja nicht einmal Wasser?›»
Die 29-jährige Deutsche ist ausgebildete Krankenschwester, sie arbeitet für die Organisation Medical Volunteers International auf der Insel Lesbos. Jetzt, nach Ausbruch der Corona-Epidemie ist die medizinische Situation noch prekärer als zuvor.
Am Telefon berichtet sie, an was es alles fehlt im Lager: Masken, Handschuhe, Kittel – vor allem aber an medizinischem Personal. Medical Volunteer International, Marias NGO, ist eine der letzten auf Lesbos. Alle anderen haben die Insel verlassen – wegen des Coronavirus.
Für die lokale Bevölkerung auf Lesbos wurde anfangs Woche eine Ausgangssperre verhängt. In Moria sei dies nicht möglich, sagt Maria. «Wie sollte das gehen? Man kann die Menschen nicht in ihre winzigen Zelte sperren. Sie leben jetzt schon auf engstem Raum, ausserdem müssen sie überall anstehen: Fürs Wasser, für die Duschen, für die Essensausgabe.»
Maria hustet ins Telefon, «kein Corona, ich rauche einfach zu viel». Die 29-Jährige ist seit eineinhalb Jahren auf Lesbos – viel länger als ursprünglich geplant. Ihr Team umfasst noch fünf Ärzte und sieben Krankenpfleger. Viel zu wenig, falls das Virus wirklich ausbrechen sollte.
Fabian Bracher wird am Telefon deutlich: «Ich bin enorm frustiert – und ich bin wütend», sagt der Leiter des Schweizer Flüchtlingshilfswerks One Happy Familiy. Wütend über die Untätigkeit der Schweiz und Europa angesichts der humanitären Krise vor der eigenen Haustür, wütend über das Wegschauen der reichen Länder.
Bracher war bis zum vergangenen Montag auf der Insel Lesbos. «Die Lage ist dramatisch», die Camps seien überfüllt wie nie zuvor, vor allem das berüchtigte Lager Moria. «Moria hat eine offizielle Kapazität von 2840, nun sind hier 20'000 Menschen eingepfercht. Die Zustände sind noch viel schlimmer als sonst. Ganze Familien sind in sommerlichen Dreierzelten untergebracht, in gewissen Containern leben 16 Menschen auf wenigen Quadratmetern. Die Forderung nach Social Distancing ist angesichts dieser Bedingungen ein Hohn.»
Brachers Hilfswerk One Happy Familiy setzte auf die Zusammenarbeit mit den Geflüchteten. Gemeinsam betrieben sie ein Café, gaben Kindern Schulunterricht und integrierten Leute in den lokalen Arbeitsmarkt. Anfang März brannte das Gemeinschaftszentrum von One Happy Familiy nieder, schnell war klar, dass es sich um Brandstiftung handelte. Die Täter wurden mittlerweile ermittelt.
Vor zwei Wochen kam es auf der griechischen Insel zu heftigen Demonstrationen. Die lokale Bevölkerung entlud ihren Frust gegen ein geplantes neues Flüchtlingszentrum, Rechtsextreme mischten sich unter die Demonstranten und bedrohten Geflüchtete, Journalistinnen und Flüchtlingshelfer. «Seither herrscht eine Stimmung der Angst», sagt Bracher. Viele NGOs haben ihre Helfer abgezogen, selbst die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die medizinische Versorgung vor Ort garantiert, musste den Betrieb für zwei Tage aussetzen.
Bracher wünscht sich mehr Engagement der Zivilgesellschaft – und dass die Politik endlich handelt. «Die Menschenrechte in Griechenland wurden faktisch ausgehebelt. Und wenn Menschenrechte für Menschen auf der Flucht nicht gelten, gelten sie für uns alle nicht.»
Für den 29-Jährigen ist klar: Das Engagement in Lesbos wird fortgesetzt. Der Neuaufbau des Zentrums ist wegen der faktischen Ausgangssperre in Griechenland zwar auf Eis gelegt. Sobald diese gelockert werden, wird das Team weitermachen. «Man darf den Mut nicht verlieren.»
Erik Marquardt sitzt als Abgeordneter der Deutschen Grünen im Europaparlament. Momentan betreibt er aber vor allem Politik vor Ort. Marquardt ist seit dem 25. Februar auf der Insel Lesbos. «Flucht und Migration wird sonst immer erst dann virulent, wenn sie an der eigenen Grenze passiert. Ich wollte das mal umkehren.» Seit vier Wochen berichtet Marquardt nun in den sozialen Medien und in Interviews über die Situation in den Flüchtlingslagern auf Lesbos und setzt sich als migrationspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament für eine Verbesserung der Bedingungen vor Ort ein.
Der 32-Jährige war als Fotojournalist bereits in anderen Krisenregionen unterwegs. In Afghanistan, mit Seenotrettern auf dem Mittelmeer und auf der Balkanroute. Die letzten paar Wochen auf Lesbos, sagt er, hätten sich angefühlt wie in der Serie «The Walking Dead». Brände in Lagern, gewalttätige Proteste mit Knüppeln und Eisenketten, angereiste Rechtsextreme gegen die Flüchtlingslager und nun die drohende Ausbreitung des Coronavirus.
Dennoch betont Marquardt: «An den EU-Aussengrenzen herrschte schon vor Corona eine humanitäre Krise.» Und zwar mit Absicht: «Die Europäische Asylpolitik setzte auf Abschreckung. Die Bilder in den Lagern und an der Grenze sollten Menschen daran hindern, sich auf den Weg zu machen.»
Geflüchtete im Camp #Moria zeigen, dass sie angesichts der bevorstehenden Katastrophe nicht einfach aufgeben. In Akkordarbeit werden Schutzmasken produziert.
— Erik Marquardt (@ErikMarquardt) March 21, 2020
Ohne Evakuierung wird es trotzdem zur Katastrophe kommen. Aber Kapitulation ist keine Alternative. #LeaveNoOneBehind pic.twitter.com/ILk8pXXVfK
Und seit der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan den 2016 geschlossenen Flüchtlingsdeal faktisch aufkündigte, verschlimmert sich die Situation noch einmal. Für Marquardt, der seit 2019 im Europaparlament sitzt, kommt das einer Bankrotterklärung gleich. «Die EU gibt in diesen Tagen ein erbärmliches Bild ab. Erdogan muss einmal pusten, und die EU fällt wie ein Kartenhaus zusammen.»
Mit der Petition #LeaveNoOneBehind will der deutsche Grüne-Politiker nun erreichen, dass die europäischen Regierungen und die EU-Kommission die Flüchtlingslager evakuieren. Ansonsten, ist Marquardt überzeugt, «wird es zur Katastrophe kommen in den Lagern», denn diese, so Marquardt, sind ein «Corona-Paradies».
Heute auf #Lesbos:
— Erik Marquardt (@ErikMarquardt) March 24, 2020
Auch Hochschwangeren aus #Moria wird jetzt der Zugang zu ÄrztInnen verwehrt. Journalisten wird Haft angedroht, wenn sie die Insel bis morgen nicht verlassen.
Rassisten pöbeln trotz Ausgangssperre Geflüchtete an, die ohne Zelt am Strand leben.#LeaveNoOneBehind
Im Moment sind die Flüchtlinge dort ja noch quasi isoliert und relativ sicher.
Ein Ansatz wäre, dass die Industriegesellschaften tatkräftig mithelfen, eine funktionierende Infrastruktur und Industrie in den Herkunftsländern aufzubauen. Mit Experten, und nicht Brot, Almosen und Bibel verteilenden Spinnern. Die Länder verpflichtend in den Handel einbinden und strukturelle Veränderungen begleiten, damit die Kohle mal dort landet wo sie soll.
Wir könnten das.