Erste Amtshandlung des neuen Amnesty-Chefs Kumi Naidoo: eine Aufforderung an Zimbabwes Präsidenten, den verschwundenen Journalisten Itai Dzamara zu finden.
Eben noch kletterte Kumi Naidoo (53) in seinen Sommerferien auf den 5895 Meter hohen Kilimandscharo. Doch die Aufgabe, der sich der südafrikanische Aktivist seit dieser Woche widmet, wird ihm wesentlich mehr abfordern als die Besteigung von Afrikas höchstem Berg. Naidoo ist neuer Direktor von Amnesty International und damit der oberste Menschenrechtsaktivist der Welt. Bereits als 15-Jähriger flog er in seiner Heimatstadt Durban von der Schule, weil er gegen die Apartheid demonstrierte.
In den 80er-Jahren wurde er wegen seiner Protestaktionen ins Gefängnis gesteckt und ging danach ins britische Exil. Als sein Vorbild Nelson Mandela 1990 aus dem Gefängnis entlassen wurde, kehrte Naidoo in seine Heimat zurück, um beim politischen Umbau Südafrikas mitzuhelfen. Der Politikwissenschaftler war in verschiedenen Nichtregierungsorganisationen engagiert, unter anderem stand er sechs Jahre an der Spitze der Umweltschutzvereinigung Greenpeace.
Herr Naidoo, als Greenpeace-Chef haben Sie bei aufsehenerregenden Aktionen mitgewirkt, beispielsweise bei der Stürmung einer Ölbohrinsel in Grönland. Wird auch Amnesty International unter Ihrer Führung waghalsiger?
Kumi Naidoo: Amnesty unterstützt die Idee von friedlichem zivilem Ungehorsam genauso wie Greenpeace. Solche Aktionen helfen, einem grossen Publikum komplexe Themen näherzubringen. Ich möchte, dass Amnesty grösser und vor allem noch mutiger wird.
Was heisst das konkret?
Generell müssen mehr Menschen bereit sein, ihr Leben für die Sache der Menschenrechte aufs Spiel zu setzen, wenns nötig ist. Wenn ich mutiger sage, dann meine ich, dass wir den friedlichen zivilen Ungehorsam intensivieren müssen. Die Geschichte lehrt uns, dass unsere Gesellschaft Herausforderungen nur dann angepackt hat, wenn genug Menschen aufstehen und sagen: Jetzt reichts. Um diesen Punkt zu erreichen, sind mutige Aktionen nötig.
Haben Sie etwas Konkretes geplant?
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir denken intensiv über mutigere Methoden nach.
Der Klimawandel wird eine Hauptrolle spielen in den Menschenrechtsdebatten der Zukunft. Begeht jeder, der ein Flugzeugticket kauft, einen Verstoss gegen die Menschenrechte?
Es ist schwierig, da eine generelle Aussage zu machen. Wer beispielsweise ins Flugzeug steigt, um an Klimakonferenzen teilzunehmen, der begeht in meinen Augen keinen Verstoss gegen die Menschenrechte. Genauso wenig wie jene Personen, die zu einer Beerdigung oder sonst einem für sie wichtigen persönlichen Anlass fliegen.
Also aufrichtig über die Risiken des Klimawandels diskutieren und munter weiterfliegen?
Die Herausforderung liegt darin, Flugtransportmöglichkeiten zu schaffen, die weniger Verschmutzung verursachen. Wir haben die Möglichkeiten dazu, wir brauchen aber den entsprechenden politischen Willen. Da sollten wir unsere Energie hineinstecken. Es bringt nichts, wenn wir alle Formen des Reisens als Menschenrechtsverstoss verurteilen.
Was ist denn der grösste Menschenrechtsverstoss unserer Zeit?
Es gibt horrende Menschenrechtsverstösse, bei denen wir uns schämen sollten, dass wir sie noch nicht beenden konnten. Der Bürgerkrieg in Syrien, die Verfolgung der Rohingya in Burma und die katastrophale Lage der Menschen im Jemen, zum Beispiel.
Welche dieser Krisen hat für Sie oberste Priorität?
Syrien. Das wird eines der ersten Länder sein, in das ich in meiner Funktion als Amnesty-Direktor reisen werde, um herauszufinden, was wir noch besser machen können, um eine Lösung herbeizuführen.
Und was machen Sie konkret, um diese Lösung zu finden?
Sie müssen verstehen: Ich habe meinen zweiten offiziellen Arbeitstag und bin in einer intensiven Zuhör-Phase. Die Lösungen für die Konflikte habe ich leider noch nicht gefunden.
In vielen Ländern – USA, Italien, Ungarn oder Deutschland – sind nationalistische Kräfte im Aufwind. Man hat wenig Gehör für Menschenrechts-Anliegen und kümmert sich lieber um die eigenen Belange. Wie wollen Sie diesen Kreisen den Kampf gegen Menschenrechtsverstösse schmackhaft machen?
Amnesty International hat ein Projekt lanciert unter dem Titel «Wir gegen Die». Es ist das einzige Projekt, das direkt mir als Direktor untersteht. Das zeigt, wie ernst wir die Thematik nehmen. Wir versuchen diesen politischen Kräften klarzumachen, dass Spaltung, Angst und Hass uns allen schadet. Was wir brauchen, ist Dialog. Wenn sich die Menschen in ihren eigenen Wagenburgen verschanzen und die Augen verschliessen, bringt das niemanden weiter. Auch sie selbst nicht.
Was nützt es denn, wenn kleine Länder wie die Schweiz sich bemühen, solange die Regierungen von Weltmächten wie den USA den Klimawandel nicht ernst nehmen oder Russland nicht über Menschenrechte diskutieren will?
Niemand sollte sich von Trump oder Putin desillusionieren lassen. Dass Trump die USA aus dem Klimaabkommen von Paris herausgenommen hat, hat die Klimabewegung in den USA gestärkt. Nur weil wir Leader haben, die keine Ahnung haben, heisst das nicht, dass die Menschen diese Bewegung nicht von unten stärker machen können.
Der SVP-Politiker Albert Rösti, Präsident der grössten Partei der Schweiz, sagte jüngst: Wenn jemand den Klimawandel stoppen könne, dann Indien, China und die USA. Solange die sich nicht bewegten, bringe alles, was die Schweiz unternehme, sowieso nichts. Das hat was.
Schauen Sie, jeder Mensch, der heute die Nachrichten verfolgt oder nur schon das Wetterprogramm schaut, weiss, dass die Uhr auf fünf vor zwölf steht. Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr geben wird, ist nah. Niemand, wirklich niemand darf sich jetzt den Luxus gönnen, einfach passiv zuzuschauen. (aargauerzeitung.ch)