International
Ukraine

Juri Andruchowitsch: «Putin hat etwas erreicht, das die Ukrainer selbst in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht geschafft haben» 

Schriftsteller Juri Andruchowitsch: Der Euromaidan ist nicht gescheitert, die Revolution ist aber auch noch nicht gewonnen.
Schriftsteller Juri Andruchowitsch: Der Euromaidan ist nicht gescheitert, die Revolution ist aber auch noch nicht gewonnen.bild: jürg vollmer

Juri Andruchowitsch: «Putin hat etwas erreicht, das die Ukrainer selbst in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht geschafft haben» 

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowitsch war im Winter 2013/14 auf dem Maidan und hat auch bei der Orangen Revolution 2004 eine entscheidende Rolle gespielt. Ein Gespräch über die geteilte und doch geeinte Ukraine, ihre Oligarchen sowie die Propaganda aus Russland und der EU.
12.04.2015, 20:3927.04.2015, 17:08
Folge mir
Mehr «International»

2004 scheiterte die orange Revolution, weil sich Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko zerstritten. Im Winter 2013/2014 wurde auf dem Euromaidan wieder viel versprochen. Kann der neue Präsident Poroschenko seine Reformen gegen die Oligarchen durchsetzen oder ist auch der Euromaidan zum Scheitern verurteilt?
Juri Andruchowitsch:
Der Euromaidan ist nicht gescheitert, die Revolution ist aber auch noch nicht gewonnen. Unser Land steckt mitten in einem sehr komplexen Reformprozess. Die Ukraine braucht dafür finanzielle Hilfe der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds – und deren Milliarden gibt es nur, wenn die strengen Bedingungen dieser Institutionen erfüllt werden. Die Reformen kommen in kleinen Schritten, aber sie kommen. 

Zur Person

Bild
Bild: EPA/DPA
Juri Andruchowytsch
wurde 1960 in der Westukraine geboren. Er studierte Journalistik und begann als Lyriker sowie Übersetzer aus dem Russischen, Polnischen, Englischen und Deutschen. Unter anderem übersetzte er Robert Walsers «Der Spaziergang» ins Ukrainische.
Mit seinen drei Romanen «Rekreaciji» (1992), «Moskowiada» (1993), «Perverzija» (1999) ist Andruchowytsch zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden. Er ist u.a. Herausgeber des Sammelbandes «Euromaidan – Was in der Ukraine auf dem Spiel steht», in dem Schriftsteller, Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler von den aufwühlendsten Tagen ihres Lebens erzählen.
Zusammen mit seiner Frau lebte er 2011 für neun Monate in der Schweiz und arbeitete als Gastautor in Zug und Lenzburg. (jv)

Aber Poroschenko wird von vielen Ukrainern kritisiert, weil er den Einfluss von Oligarchen wie Ihor Kolomojskyj beschnitten hat und ihn als Gouverneur von Dnipropetrowsk feuerte.
Ihor Kolomojskyj ist schwer einzuordnen. Einerseits haben seine territorialen Bataillone (eine Art Privatarmee) die Separatisten und die russische Armee davon abgehalten, den Krieg aus Donezk und Luhansk in «seine» Region Dnipropetrowsk zu tragen. Und bei seiner Antrittsrede als Gouverneur hatte Kolomojskyj den Nerv, den russischen Präsidenten Putin als «kleinen Schizophrenen» zu bezeichnen. Das macht Kolomojskyj sympathisch für viele Ukrainer, auch für mich. Andererseits weiss jeder Ukrainer, dass die Oligarchen unser Land überall hinführen – nur nicht nach Europa. An Kolomojskyj hat Präsident Poroschenko ein Exempel statuiert.

«Weil Russland die Krim annektierte und in der Ostukraine Krieg führt, leben wir jetzt in einem unglaublich interessanten historischen Moment, wo es nur noch eine einzige Ukraine gibt, die gegen Putins Russland kämpft.»
Juri Andruchowitsch

Sie sagen, es gebe keine West- und keine Ostukraine mehr, Putin habe die Ukraine geeint. Ist das nicht Wunschdenken? 
Beim Euromaidan von 2013/2014 standen Ukrainer mit russischer und ukrainischer Muttersprache nebeneinander auf den Barrikaden, mit europäischen und ukrainischen Fahnen. Weil Russland danach die Krim annektierte und in der Ostukraine Krieg führt, leben wir jetzt in einem unglaublich interessanten historischen Moment, wo es nur noch eine einzige Ukraine gibt, die gegen Putins Russland kämpft. Putin hat damit etwas erreicht, was die Ukrainer selbst in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht geschafft haben. 

Die Bewohner der Regionen Donezk und Luhansk werden dies nicht ganz so sehen ... 
Natürlich gibt es diese pro-russischen Separatisten in den Regionen Donezk und Luhansk. Aber das ist nur ein kleines Gebiet von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums. Dass sich die russischsprachige Ostukraine und die ukrainischsprachige Westukraine bekämpfen, ist aber eine hundertprozentig falsche Behauptung der russischen Propaganda. 

«Jeder Ukrainer weiss, dass die Oligarchen unser Land überall hinführen – nur nicht nach Europa.»
Juri Andruchowitsch

Auf der von Russland annektierten Krim-Halbinsel sitzen Landwirtschaft und Haushalte auf dem Trockenen, nachdem die Ukraine die Trinkwasserzufuhr sperrte. Und durch die internationalen Sanktionen hat sich die wirtschaftliche Situation dort massiv verschlechtert. Trotzdem sind die Krim-Bewohner von Russland nicht enttäuscht. Wie erklären Sie sich das? 
Auf der Krim ist die ethnische Identität stärker, als jede Vernunft. Die Krim und insbesondere die Heldenstadt Sewastopol hatten schon in der Sowjetunion und später auch in der Ukraine einen Sonderstatus. Auf der Krim leben traditionell viele pensionierte Offiziere der russischen Armee, der Schwarzmeerflotte sowie der Geheimdienste. Wenn diese «Silowiki» jetzt die wirtschaftlichen Probleme hart zu spüren bekommen, denken sie einfach, dass es irgendwann schon besser wird.  

Als Instrument gegen die russische Propaganda will die EU einen russischsprachigen TV-Sender gründen. Kann dieser westliche TV-Sender stärker sein, als die russische Propaganda? 
Es gibt natürlich immer Menschen, die für vernünftige Argumente nicht zugänglich sind. Man muss sich das Leben dieser von der russischen Propaganda indoktrinierten Bürger vorstellen, wie in einer Sekte. Aber ich glaube, dass es immer noch genug Bürger gibt, die auf rationale Argumente ansprechen. Dazu kommt das ökonomische Momentum: Wenn es dort mit der Wirtschaft weiter so bachab geht wie bisher, und die Menschen noch lange in Ruinen leben, dann sind die TV-Bilder aus dem wohlhabenden Westeuropa stärker als die Propaganda. 

«Die ‹Silowiki› auf der Krim, die  jetzt die wirtschaftlichen Probleme hart zu spüren bekommen, denken einfach, dass es irgendwann schon besser wird.»  
Juri Andruchowitsch

In der Ukraine werden seit einigen Monaten Bücher, Medien, Kinofilme und vor allem TV-Serien aus Russland verboten. Ist es nicht ein Anachronismus, dass die Ukrainie auf dem Weg in eine freiheitliche Gesellschaft die Zensur einführt? 
Verboten wurden nur Bücher und Filme, welche die russischen Streitkräfte und die «Silowiki» verherrlichen. Ich halte dieses Verbot für gerechtfertigt, solange russische Soldaten und Geheimdienstler gegen unser Land Krieg führen und ukrainische Soldaten und Zivilisten deswegen sterben müssen. 

In Donezk und Luhansk sowie auf der Krim gibt es umgekehrt nur noch russische Propaganda. Alle ukrainischen Medien wurden verboten. Sie sagten, die Menschen dort sind so indoktriniert, wie in einer Sekte. Wäre es deshalb nicht besser, wenn die Ukraine diese Regionen einfach aufgeben würde? 
Das wäre ein Geschenk mit Sprengkraft für Putin, denn Russland kann sich den Wiederaufbau von Donezk und Luhansk sowie die dringend notwendigen Infrastrukturen zur Versorgung der Krim-Halbinsel gar nicht leisten. Aber Präsident Poroschenko darf das nicht einmal laut denken, sonst wird er am gleichen Tag abgesetzt. Dazu kommt, dass die Separatistenführer immer wieder erklären, dass ihre nächsten Ziele Odessa, Lemberg und Kiew sind. Aus Sicht der ukrainischen Regierung ist es also besser, den Krieg in Donezk und Luhansk zu lassen als ihn vor den Toren von Odessa, Lemberg oder Kiew zu haben. 

Hat die Ukraine überhaupt eine Chance, solange Russland in den Separatistengebieten der Ostukraine je nach politischem Bedarf Unruhe stiften kann? 
Eigentlich hatten wir immer keine Chance. Auch auf dem Maidan nicht. (Er lacht bitter) Aber wir Ukrainer müssen die Situation, so wie sie heute ist, akzeptieren und das Beste daraus machen. Und wir müssen damit leben, dass pro-russische Separatisten oder russische Geheimdienstler in unseren Städten Bomben legen. In den vergangenen Wochen gab es Dutzende Bombenanschläge in Odessa, Charkiw, Mariupol und Kiew. In Odessa gab es alleine im Dezember 2014 sechs Bombenanschläge.  

«Aus Sicht der ukrainischen Regierung ist es besser, den Krieg in Donezk und Luhansk zu lassen, als ihn vor den Toren von Odessa, Lemberg oder Kiew zu haben.»
Juri Andruchowitsch
Kiew, Februar 2014: Der Euromaidan ist nicht gescheitert, die Revolution ist aber auch noch nicht gewonnen.
Kiew, Februar 2014: Der Euromaidan ist nicht gescheitert, die Revolution ist aber auch noch nicht gewonnen.Bild: ZURAB KURTSIKIDZE/EPA/KEYSTONE
Maidan
Die Euromaidan-Revolution ist nach dem «Maidan Nesaleschnosti» (Unabhängigkeitsplatz) in der Hauptstadt Kiew benannt. Nach kleineren Demos im November protestierten hier am 8. Dezember 2013 mehr als 1 Million Menschen gegen die exzessive Gewalt, mit der zuvor die Spezialeinheit Berkut friedliche Studentenproteste aufgelöst hatte. Die Bürger forderten die Amtsenthebung von Präsident Janukowitsch und die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU. Ab dem 18. Februar 2014 eskalierte die Situation und am 20. Februar töteten die Scharfschützen des Präsidenten rund 100 Demonstranten. Janukowitsch floh in derselben Nacht mit dem Hubschrauber und lebt heute in Russland. (jv)

Zurück auf den Maidan in Kiew. Dort herrschte selbst in der heissesten Phase der Revolution erstaunliche Ruhe und Ordnung, es gab sogar eine Müllabfuhr. Die Organisation war perfekt und alles funktionierte – bekanntlich keine Kernkompetenz der post-sowjetischen Länder. Haben Sie das auch so erlebt? 
Ich war den ganzen Dezember und im Januar auf dem Maidan und erinnere mich genau an den ersten Tag. Wir staunten, wie gut alles organisiert war und wie tadellos alles funktionierte. Einige Leute organisierten Holz für die wärmenden Feuer, Ärzte pflegten die Verletzten in naheliegenden Büros und Hotels, andere kochten Tee oder Borschtsch und so weiter. Da sagte meine Frau: «Schau mal, das sind keine Ukrainer hier, das sind Schweizer!»

Eine Volontärin des Maidan-Sanitätsdienstes soll auf den Mobiltelefonen der von Scharfschützen getöteten Bürger die Anrufe der Freunde und Angehörigen entgegengenommen haben. Ist das eine schöne Revolutions-Legende oder traurige Realität? 
Die Volontärin heisst Julia und kam aus Winnyzja in der Zentralukraine. Irgendjemand brachte ihr das erste Mobiltelefon, und dann kamen immer mehr dazu. Mobiltelefone von Bürgern, die auf dem Maidan von Scharfschützen gezielt mit Schüssen in den Hals und ins Herz getötet wurden. Auf dem Tisch von Julia lag irgendwann eine lange Reihe von Nokias und Samsungs. Und dann begann ein Mobiltelefon nach dem anderen zu klingeln. Stundenlang. Am schrecklichsten war es, wenn auf dem Display das Wort «Mama» aufleuchtete. Aber Julia nahm jeden Anruf an und spendete Trost. 

Offenbar hat sich die Verantwortung der Ukrainer für ihre Gesellschaft grundlegend verändert. 2013 stand die Ukraine im Ranking zum Thema Freiwilligenarbeit noch auf Platz 112, in diesem Jahr auf dem respektablen Platz 12. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen? 
Für Schweizer ist dieser Sinn für das Gemeinwohl normal. Die Ukrainer müssen aber zuerst einmal Bürger werden, die im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich das Gemeinwesen mitgestalten. Dazu gehört, dass wir für andere sammeln und spenden. Wir helfen der Zivilbevölkerung in den Grenzgebieten und den 1 Million Flüchtlingen aus Donezk und Luhansk. Und wir unterstützen die schlecht ausgerüsteten Soldaten unserer Armee. Das ist für die ukrainische Gesellschaft ein sehr ungewohnter, aber auch ein sehr produktiver Zustand. 

«Die Ukrainer müssen zuerst einmal Bürger werden, die im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich das Gemeinwesen mitgestalten.»
Juri Andruchowitsch

Zum Schluss: Sie standen im Winter 2013/14 auf dem Maidan. Seither haben Sie kein Buch mehr geschrieben. Sind Sie vom Schriftsteller zum Aktivisten geworden? 
Ich kann keinen Roman mehr schreiben seit diesen schicksalhaften Wochen auf dem Maidan im Winter 2013/14. Ich kann meine Gedanken nicht auf einen literarischen Text konzentrieren, habe einfach nicht die innere Ruhe, die ich für einen Roman brauche. Ich weiss nicht, was passieren muss, dass ich wieder literarisch schreiben kann. Aber es wird passieren. 

Das wahre Gesicht des Krieges in der Ukraine

1 / 19
Das wahre Gesicht des Krieges in der Ukraine
Ein Pro-russischer Soldat zwischen den Trümmern des Flughafens Donezk wo die erbittertsten Kämpfe stattgefunden haben.
quelle: epa/epa / luca piergiovanni
Auf Facebook teilenAuf X teilen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
8 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
8
Diese 12 Juroren werden über Donald Trumps Zukunft entscheiden

Zwölf Menschen aus Manhattan wurden ausgewählt, in einer Jury darüber zu urteilen, ob Donald Trump schuldig ist oder nicht. Die New York Times hat zusammengetragen, was nach drei Tagen der Juryauswahl über die Geschworenen bekannt ist.

Zur Story