Vor langer, langer Zeit war die Saaseralp im Prättigau mager und trocken und die Kühe, die dort weideten viel zu schmal und ausgehungert. Dies war den vielen Schlangen zuzuschreiben, die hoch über dem Dorf ihr Unwesen trieben. Immer wieder kam es vor, dass eine Kuh von den giftigen Schlangen gebissen wurde und starb. So verkleinerte sich der Viehbestand Jahr für Jahr und die Dörfler wussten weder ein noch aus.
An einem besonders heissen Sommertag kam der junge Hirt, der an diesem Tag auf der Alp gehütet hatte, aufgewühlt ins Dorf. Er ging schnurstracks in die Schankstube und erzählte den anderen Bauern von seinem unglücklichen Tag. Eine besonders aggressive Schlange hatte die schönste und beste Kuh des Dorfes gebissen, worauf diese ihren Verletzungen erlag.
Kaum waren seine Worte verklungen, quietschte die hölzerne Tür des Wirtshauses, woraufhin sich alle Augen auf das kleine, hagere Männlein richtete, das durch den Eingang trat. Die Dörfler blickten sich fragend an. Wer war diese Gestalt, die eine unheilbringende Aura ausstrahlte?
Der Unscheinbare mit seinen grauen Haaren, den klaren Augen und dem dichten Bart setzte sich an einen Tisch, bestellte ein Bier und fragte, worüber denn gesprochen werde. Der Jüngling berichtete ihm bereitwillig von der Schlangenplage auf der Saaseralp.
Der Unbekannte, der seinen Namen nicht preisgab, fragte den jungen Hirten über die Vorfälle aus. Er wollte alles genau wissen und schien sich besonders für die Farbe der Schlangen zu interessieren. Mehrmals hakte er nach, ob denn schon einmal weisse Schlangen gesehen worden seien. Doch der Jüngling verneinte.
Lange sprachen die beiden miteinander und keiner der anderen Wirtshausgäste wagte sich, das Gespräch zu unterbrechen. Plötzlich leerte das Männlein seinen Krug in einem Zug und verkündete mit fester Stimme, dass es die Dörfler von der Schlangenplage befreien werde.
Bei Morgengrauen des nächsten Tages brach das kleine Männlein in Gefolgschaft der Saaser Bauern auf, um die Alp zu besuchen. Sie wollten mit eigenen Augen sehen, wie dieser seltsame Fremde der Schlangenplage Herr werden wollte. Als sie auf der Alp ankamen, begann er flink drei grosse Haufen aus Reisig und Heidekraut zu machen. Er warf auf die Haufen ausserdem seltsame Kräuter und Wurzeln, die die Bauern ihrer Lebtage noch nie gesehen hatten. Daraufhin zündete er die Haufen an, woraufhin sich ein süsslicher, beinahe betörender Duft in der Luft ausbreitete. Nun zog er feierlich sein schwarzes Käppchen ab, hielt es sich mit einer Hand an die Brust und nahm mit der anderen Hand ein kleines silbernes Pfeiflein aus seiner Tasche.
Sobald er zu pfeifen begann, hörten die Älpler von allen Seiten Geraschel und Gezische. Die Schlangen strömten in Scharen auf die drei Haufen zu und stürzten sich blindlings ins Feuer. Die Flammen züngelten und frassen sich durch das Schlangenfleisch, sodass der Geruch von verbranntem Fleisch bei den Bauern Übelkeit auslöste. Das Männlein liess sich davon jedoch nicht beirren und tanzte, seltsame Melodien pfeifend, um die Haufen herum.
Plötzlich kehrte Ruhe ein und keine Schlangen kamen mehr angekrochen. Das Männchen wischte sich die Schweisstropfen weg, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten und die Älpler waren bereits im Begriff ihm zuzujubeln, als sie plötzlich entsetzt davonsprangen.
Aus nicht all zu weiter Ferne krochen drei riesige, weisse Schlangen zügig auf das Männlein zu. Für wenige Sekunden blieb es wie angewurzelt stehen, doch dann rannte es davon. So schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnte, lief er über die Wiese. Das Männlein wollte den breiten Bach durchwaten, um sich auf der anderen Seite in Sicherheit zu bringen. Aber es war zu spät. Die weissen Schlangen hatten es eingeholt, packten es und wanden sich um seinen Körper.
Sie attackierten das Männlein unter fürchterlichen Angriffslauten. Die Älpler standen schlotternd, mit zu Berge stehenden Haaren da und mussten mit ansehen, wie die Schlangen dem markerschütternde Schreie ausstossenden Männlein das Herz aus der Brust rissen.
Von diesem Tag an waren die Saaser Bauern von der Schlangenplage befreit, das Gras gedieh prächtig und das Vieh gab so gute Milch wie noch nie. Doch die Leiche des Männleins wurde bis heute nie gefunden. Der Bach heisst seit diesem dunklen Ereignis Schreierbach, denn die Schreie des Männleins vergassen die Älpler ihr Leben lang nicht. Und wenn man ganz gut hinhört, kann man in heissen Sommernächten noch heute das Stöhnen des ermordeten Männleins hören.
Quelle: Nach Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
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