Meine Freundin Lea und ich sitzen im Norden Argentiniens neben einer heruntergekommenen Tankstelle. Die gelben Parkfelder werden gerade frisch gestrichen, doch sonst ist alles am Verlottern und Verrosten. Die Luft ist trocken und jeder Lastwagen, der an uns vorbeidonnert, schleudert uns eine dicke Staubwolke ins Gesicht.
Nach einer halben Stunde Dreck fressen hält ein Pickup-Truck. Der Mann am Steuer ist gerade am Handy und ruft uns durchs offene Fenster zu: «Ihr könnt mitkommen, aber ich fahre nur 100 Kilometer in diese Richtung.» Es klingt, als würde er davon ausgehen, dass wir lieber auf eine andere Mitfahrgelegenheit warten, weil uns 100 Kilometer nichts nützen.
Die Aussage kommt nicht von ungefähr: Wir befinden uns auf der Ruta Nacional 16, einer 700 Kilometer langen argentinischen Nationalstrasse, die schnurgerade von West nach Ost führt. Kurven sind unnötig, denn es gibt hier weder Berge, Flüsse noch Seen, die umfahren werden müssten.
Die nie enden wollenden Ackerflächen werden nur von ein paar tristen, schachbrettartig angelegten Ortschaften unterbrochen, die alle 20 bis 30 Kilometer aus dem Nichts auftauchen. 100 Kilometer bringen uns deshalb tatsächlich nur drei Dörfer weiter – bis zur nächsten Kreuzung. Wir laden unsere Rucksäcke aber trotzdem auf die Ladefläche und steigen gerne ein.
Nachdem der Mann mit Hemd und Sonnenbrille sein Telefonat beendet hat, stellt er sich als Adrian vor. Ich sage ihm: «Wir kommen aus der Schweiz, für uns sind 100 Kilometer weit. In vier Stunden kann man das ganze Land durchqueren.» Adrian lacht und sagt: «Ich bin gerade auf dem Weg zu einer dreistündigen Sitzung und fahre dafür 650 Kilometer weit. Und danach die gleiche Strecke wieder zurück.»
Wir machen grosse Augen: «650 Kilometer für eine Sitzung? Das ist ja Wahnsinn! Wieso macht ihr das nicht via Skype?» Adrian, der für einen internationalen Agrarhandelskonzern arbeitet, antwortet gelassen: «Das ist normal. Meine Firma will, dass ich an der Sitzung persönlich anwesend bin. Und für Skype ist die Internetverbindung in Argentinien zu unzuverlässig.»
Adrian ist bei weitem nicht der Einzige im Norden Argentiniens, der aus beruflichen Gründen unglaubliche Distanzen zurücklegen muss. In dem riesigen Land, 67 Mal so gross wie die Schweiz, sammeln nicht nur Lastwagenfahrer fleissig Fahrkilometer.
Fagundo, bei dem wir einen Tag später im Auto sitzen, arbeitet als Verkäufer für Pharmakonzerne und klappert mit seinem Auto Woche für Woche die Spitäler in der Region ab. Der junge Familienvater sagt uns: «Ich lege wöchentlich rund 3000 Kilometer zurück.»
Ich bin in der Schweiz zwei Jahre lang von Winterthur nach Aarau gependelt. Vor allem Abends kam mir die 70 Kilometer lange Strecke jeweils vor wie eine halbe Weltreise – und ja, ich habe gejammert. Wenn man das nun mit den Arbeitswegen in anderen Ländern vergleicht, erscheint das lächerlich.
Ich habe mir aber trotzdem geschworen, nach meiner Rückkehr in die Schweiz maximal eine halbe Stunde zur Arbeit zu pendeln. Schliesslich kann ich auch nichts dafür, dass das im Norden Argentiniens für viele nicht einmal reicht, um bis zur nächsten Tankstelle zu kommen.