
Sollen Sozialbetrüger stärker überwacht werden als Steuerhinterzieher?Bild: shutterstock
Analyse
Der Ständerat will
IV-Bezüger mit Peilsendern bespitzeln lassen. Gleichzeitig hat das Parlament eine
schärferes Steuerstrafrecht versenkt. Die Empörung über diese «Ungleichbehandlung» ist gross – zu Recht?
16.12.2017, 12:2917.12.2017, 07:10

Folgen
Was ist schlimmer: den Fiskus hintergehen, indem man Einkommen und Vermögen nicht
deklariert und so weniger Steuern zahlt, als man eigentlich müsste?
Oder Sozialleistungen beziehen, auf die man kein Anrecht hat? Das
Parlament befeuerte die Debatte über diese Streitfrage in der Wintersession mit zwei kontroversen Entscheiden.
Am Donnerstag
beschloss der Ständerat, dass IV-Rentner bei Verdacht auf Missbrauch
nicht nur observiert, sondern auch mit GPS-Peilsendern überwacht
werden dürfen. Zwar schwächte der Rat die Massnahme
insofern ab, als dafür eine richterliche Genehmigung notwendig ist.
Kritiker aus dem linken Lager zeigten sich trotzdem empört: Mit dem
neuen Gesetz könnten mutmassliche IV-Betrüger schärfer überwacht
werden als Kriminelle oder Terrorverdächtige.
Sie erinnerten auch
daran, dass die kleine Kammer nur zwei Tage zuvor jegliche
Verschärfung für Steuerdelinquenten abgelehnt hatte. Sie
beauftragte den Bundesrat, auf die von der früheren Finanzministerin
Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) aufgegleiste Revision des
Steuerstrafrechts zu verzichten. Das Bankgeheimnis für
inländische Kunden bleibt erhalten.
Rückzug der Matter-Initiative?
Die bürgerliche
Mehrheit wollte damit in erster Linie den Rückzug der
Bankgeheimnis-Initiative des Zürcher SVP-Nationalrats Thomas Matter
ermöglichen. Dies dürfte nun geschehen, auch wenn das
Initiativkomitee erst im Januar entscheiden will.
Vordergründig aber signalisierte der Ständerat wie zuvor der
Nationalrat, dass Steuerhinterzieher weiterhin geschont werden.
Nicht nur im
Parlament stiess diese Ungleichbehandlung von Sozial- und
Steuerbetrügern sauer auf. In den sozialen Medien und
Kommentarspalten kamen Wut und Unverständnis vorab von linker Seite
zum Ausdruck. Auch watson-User zeigten sich empört.
Die wütenden
Reaktionen sind verständlich. Die Beschlüsse des Parlaments
erwecken den Eindruck, dass es in der Schweiz schlimmer ist, den
Sozialstaat zu «bescheissen», als genau diesem Staat die ihm
zustehenden Einnahmen vorzuenthalten. Das Parlament plagt die
Schwachen und schont die Reichen, könnte man es polemisch
formulieren.

Thomas Matter bei der Einreichung seiner Bankgeheimnis-Initiative.Bild: KEYSTONE
Der Unmut ist nicht
unberechtigt. Normalverdiener müssen ihr Einkommen via
Lohnausweis deklarieren, sie haben weit weniger Möglichkeiten zur «Steueroptimierung» als Gutsituierte. Die von den Bürgerlichen
gerne beschworene Steuerehrlichkeit in der Schweiz ist ein Mythos.
Auch hierzulande wird der Fiskus kräftig übers Ohr gehauen. Genaue
Zahlen gibt es aus naheliegenden Gründen nicht, doch die
Hinterziehungsquote wird laut NZZ auf 5 bis 20 Prozent geschätzt.
Tricksen bei den Steuern
Die Matter-Initiative dürfte denn auch nicht zuletzt aus
Angst vor der Linken zurückgezogen werden. Diese würde eine Abstimmung über die «Steuerhinterziehungs-Initiative» begrüssen. Sie hätte gute
Erfolgschancen. Der Kampf gegen die
Unternehmenssteuerreform III hat gezeigt, dass das Stimmvolk auf das
Thema Steuergerechtigkeit sensibel reagiert.
Die Missbrauchsquote
im Sozialbereich liegt dagegen bei etwa 2 bis 10 Prozent, hat der «Beobachter» errechnet. Die beiden Bereiche lassen sich kaum
direkt vergleichen. Dennoch bleibt der Eindruck, dass bei den Steuern
stärker getrickst wird als im Sozialbereich. Auch der private
Versicherungsbetrug ist laut «Beobachter» grösser als der
Missbrauch im sozialstaatlichen Sektor.
Wenig Toleranz für Sozialbetrug
Ist die Empörung
also berechtigt? Wenn man die Brille des Klassenkampfs ablegt, ist
die Sache nicht so einfach. Unsere Gesellschaft ist vom «protestantischen» Ethos geprägt, wonach jeder Mensch selbst für
seinen Lebensunterhalt sorgen muss. Viele Leute schämen sich, wenn
sie beim Staat um Hilfe bitten müssen. Weshalb die Sensibilität auch in diesem Bereich gross ist.
Dies gilt
insbesondere für die Sozialhilfe. «In der Wahrnehmung der
Bevölkerung werden hier Leistungen ausgerichtet, denen keine
Gegenleistung gegenübersteht», sagte Walter Schmid, der frühere
Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), dem «Beobachter». «Entsprechend sensibel und wenig tolerant
reagieren viele auf Missbräuche in der Sozialhilfe.»

Monika Stocker wollte Sozialhilfe-Missbrauch lange nicht als Problem wahrhaben.Bild: KEYSTONE
Viele Linke haben
das nicht verstanden. Ein Beispiel ist die frühere Stadtzürcher
Sozialdirektorin Monika Stocker (Grüne). Sie wollte nicht wahrhaben,
dass die von zwei Whistleblowerinnen an die «Weltwoche» geleakten
Fälle von krassem Sozialhilfe-Missbrauch (Stichwort BMW) ein ernstes
Problem sind. Nur widerwillig stimmte sie der Einsetzung von
Sozialdetektiven zu.
Unbewusst hat
Stocker damit eine ähnliche Haltung eingenommen wie viele
Verharmloser der Steuerhinterziehung. Ist doch alles halb so schlimm,
seht es nicht so eng! Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach:
Weder Sozial- noch Steuerbetrug dürfen toleriert werden. In der
Realität dürfte die Durchsetzung dieser Erkenntnis am Widerstand
der Bürgerlichen scheitern.
Sollen Steuern direkt vom Lohn abgezogen werden?
Video: srf
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