Welche Mannschaft hat Sie an der
WM am meisten überrascht?
Alexandre Comisetti: Belgien. Es hat
bestätigt, was wir von dieser Generation
erwarten können.
Benjamin Huggel: Die negative Überraschung
war Deutschland, klar. Dafür
haben mich die Kroaten sehr überzeugt.
Und auch die Schweiz könnte eine
Überraschung werden.
Oder Schweden?
Huggel: Ja, die Schweden könnten das
auch sein. Sie mussten sich nach dem Abgang
von Zlatan Ibrahimovic neu finden,
spielen sehr defensiv, wie die Isländer
fast. Und sie haben keine Probleme damit,
wenn der Gegner mehrheitlich den
Ball hat.
Ist die Schweiz reif für den Viertelfinal?
Comisetti: Die Schweiz hat in den vergangenen
zwei Jahren in 25 Spielen
nur einmal verloren. Sie ist für alle ein
schwieriger Gegner.
Huggel: Die Achtelfinalqualifikation ohne
Niederlage, das Unentschieden gegen
Brasilien, das spricht für sie. Dazu
kommt die grosse Turniererfahrung. Zudem
hat sie mit Vladimir Petkovic einen
Trainer, der konsequent seinen Weg geht
und wenig Wechsel im Team vornimmt.
Er hält die Gruppe sehr homogen.
Comisetti: Die Leader im Team sind
sehr präsent. Lichtsteiner, Behrami,
Xhaka, Sommer, Shaqiri, Rodriguez.
Sie reissen die anderen mit.
Huggel: Und ich sehe niemanden, der
die Gruppe stört. Die Leader sorgen
dafür, dass niemand ausschert.
Darf man Vladimir Petkovic als
Glücksfall bezeichnen?
Comisetti: Ich glaube, Petkovic will
sich nicht so sehen. Er macht seinen
Job sehr gut, hat eine tolle Persönlichkeit.
Er geht einen gesunden Weg und sucht
das Gespräch, ist immer positiv. Das
gibt eine gute Dynamik zwischen den
Spielern und dem Trainer. Dieser Weg
dauert aber schon lange, seit Hitzfeld.
Petkovic führt und entwickelt ihn weiter.
Er macht sehr vieles richtig.
Was darf die Schweiz gegen
Schweden nicht machen?
Comisetti: Die Stärke der Schweiz ist
es, sich auch im Vorwärtsspiel zu organisieren.
Gegen Brasilien und Serbien
klappte das gut, bei eigenen Ballverlusten
war sie sofort da. Gegen Costa
Rica nicht mehr, die Sicherheit war
nicht gegeben. Hier muss die Schweiz
aufpassen gegen Schweden. Das Spiel
der Schweiz ist sehr komplex. Behrami
hat dabei eine so wichtige Rolle.
Huggel: Behrami muss beim eigenen
Ballbesitz schon antizipieren, wo der
Ballverlust passieren könnte. Damit er
sofort eingreifen kann.
Comisetti: Dafür brauchst du viel
Spielintelligenz. Wenn du weniger
konzentriert bist und die anderen das
Umschalten nicht so machen, wie du
es willst, dann fällt alles zusammen
wie ein Kartenhaus.
Huggel: Und es braucht einmal einen
guten Start. Gegen Polen an der EM war
dieser nicht gut, jetzt wieder zweimal
nicht. Woran das liegt, weiss ich nicht.
Als Spieler habe ich das oft erlebt: Du
nimmst dir so viel vor, und dann
klappt es nicht. Zum Schluss: Die
Schweiz sollte nicht das Gefühl haben,
gegen Schweden Favorit zu sein. Es
braucht viel Handwerk und grosse
Konzentration. Auch Standards könnten
entscheiden
Nach dem Spiel gegen Serbien kam
es zur Diskussion über den Doppeladler.
Michael Lang erzählt, im
Team dominierte das Gefühl «wir
gegen die Welt». Wie viel Energie
schöpft die Mannschaft daraus?
Comisetti: Weniger als die Journalisten
denken.
Huggel: Sehr gute Antwort.
Comisetti: 80 Prozent der Zeit haben
die Schweizer an Fussball gedacht. 20
Prozent an die Geschichte. Aber daraus
werden sie nicht so viel ziehen.
Huggel: Für die Spieler war der Adlergruss
kurz nach dem Spiel ein Thema.
Aber danach war es schnell vorbei.
War die Diskussion um die Jubelgesten
übertrieben?
Huggel: Was ich sagen muss zu dieser
Affäre: Man hätte im Vorfeld die möglichen
Emotionen mehr thematisieren
können. Dass die Öffentlichkeit gewusst
hätte: Doch, das ist ein schwieriges
Spiel für die albanischstämmigen
Spieler. Das wurde nicht gemacht.
Nachher war der Bumerang etwas
stark. Aber: Viele Spieler hatten gar
nichts damit zu tun. Die denken, ja das
geht wieder vorbei, das hat ja nichts
mit Fussball zu tun.
Beurteilen die Welschen solche
Dinge in der Nationalmannschaft
anders als die Deutschschweizer?
Comisetti: Die Romands haben
momentan eine riesige Euphorie für
das Nationalteam. Vor ein paar Jahren
gab es vielleicht Missverständnisse.
Aber mit der Zeit lernten die Leute,
sich zu verstehen. Für uns im Welschland
war der Jubel mehr ein Fakt als eine
grosse Diskussion. Aber die Euphorie
hat es nie weggenommen. Ich glaube,
die Leute sind sich bewusst, dass wir
ein grosses Glück haben, zusammenzuleben.
Das ist auch die Rolle der
Schweiz. Wir leben zusammen!
Sind wir Deutschschweizer
verkrampft?
Huggel: Das kann ich nicht abschliessend
beurteilen. Aber für uns Fussballer
ist das viel weniger ein Thema. Wenn
vom Verband offensiver kommuniziert
worden wäre, hätte diese Diskussion
nicht so lange stattgefunden.
Comisetti: Wenn du ein wichtiges Tor
geschossen hast, dann folgen sehr spezielle
Sekunden. Du kriegst einen
Adrenalinschub, die schönen Gefühle
rauschen aus dir raus. Du weisst manchmal
nicht genau, was mit dir passiert.
Huggel: Aber es ist sehr gut formuliert
von dir. Das Gefühl, ein wichtiges Tor
zu schiessen, das kann nicht ersetzt werden. Und das werden wir auch das
ganze Leben vermissen. Wenn du ein
wichtiges Tor schiesst, kommt meistens
etwas raus, das du nicht immer
kontrollieren kannst. Weil du genau
für diese Momente als kleiner Junge
mit Fussballspielen beginnst.
Comisetti: Ich sehe nichts Böses in so
einem Jubel. Mich persönlich hat mehr
berührt, wie Shaqiri und Xhaka nach
dem Spiel vor den Zuschauern ihre
Hand auf das Schweizer Kreuz gelegt
haben. Sie haben für mich ziemlich
stark gezeigt, wie stolz sie auf die
Schweiz sind. Es sollte die Kulturen zusammenschweissen,
nicht auseinanderreissen!
Was passiert mit einem Spieler in
den letzten Stunden vor einem
Spiel wie gegen Schweden?
Comisetti: Hauptsache, du verlierst so
wenig Energie wie möglich. Es ist nicht
immer einfach, das Handy auf die Seite
zu legen. Ich habe das zu meinen Zeiten
noch nicht so extrem erlebt. Aber ich
kann mir gut vorstellen, was jetzt los
ist. Jeder will wissen, wie es geht. Das
Wichtigste aber ist, dass du das Spiel
im Kopf nicht schon vorher spielst.
Huggel: Ich habe mir immer Szenen
visualisiert. Vor jedem wichtigen Spiel
habe ich mir vorgestellt, so ein Tor zu
schiessen wie Xhaka gegen Serbien.
Dass der Ball schön auf den rechten
Fuss kommt. Oft auch am Nachmittag
vor dem Spiel.
Comisetti: Wenn du dich zu stark
freust, gibt es das Risiko, dass du das
Spiel vor dem Spiel spielst – und viel
Energie verlierst. Wenn du aber eine gewisse
Angst hast, mit einem komischen
Gefühl im Bauch auf den Platz gehst,
dann kann das wiederum hemmen.
Wie meinen Sie das?
Comisetti: Wenn du gegen Brasilien
spielst, hast du eine Nebenrolle. Du
bist klarer Aussenseiter, das ist einfach
zu spielen. Gegen Serbien ist es 50 zu
50, du darfst nicht verlieren. Das ist
mental sehr schwierig. Nichts von aussen
wird dir helfen. Gegen Costa Rica ist es
nochmals anders, da kommen Fragen
ins Spiel wie: Bist du qualifiziert oder
nicht? Musst du alles geben oder
nicht? Hast du eine gelbe Karte oder
nicht? Lassen wir die Stammmannschaft
spielen oder nicht?
Huggel: Ich fand Serbien aus mentaler
Sicht nicht so schwierig. Du weisst: Es
ist ein Final, es gibt nur eines: Du
musst gewinnen. Costa Rica war für
mich die heikelste Partie. Du bist fast
qualifiziert – aber noch nicht ganz. Du
weisst, der Gegner ist schon draussen,
musst aber trotzdem mindestens einen
Punkt holen. Und wenn du das nicht
schaffst, lachen dich alle aus, sagen:
«Seid ihr eigentlich doof?!» Gegen
Schweden ist es wieder einfacher: Ein
Final, 50 zu 50, Vollgas, hopp!
Comisetti: Was ich beeindruckend
fand: Die Schweiz hätte gegen Serbien
auch unentschieden spielen dürfen.
Das wäre für sie das bessere Resultat gewesen
als für Serbien. Und trotzdem hat
die Schweiz in den letzten 30 Minuten
immer Druck gemacht, ohne jede
Angst vor der Niederlage. Als der Ball
einmal ins Aus ging, holte ihn Schär
sofort und warf ihn Lichtsteiner zu.
Solche Dinge sind ein riesiges Zeichen
für die Mitspieler, den Gegner, den
Schiedsrichter, das Publikum. Das beeinflusst
alle. Und am Ende ist im Fussball
eben fast nie etwas Zufall.
Bedeutet: Mit dem Willen kannst
du fast alles erreichen.
Huggel: Ja, vor allem an einer Weltmeisterschaft.
Für Klubtrainer ist es einfacher,
Mannschaften einzustellen, ihr
einen Spielstil zu geben, als für Nationaltrainer,
weil sie mehr Zeit haben.
Das heisst: Die mentale Bereitschaft,
der Wille, die gute Gruppe ist bei
Länderturnieren sehr wichtig. Fast
wichtiger als in einer Liga, wo die Spieler
immer zusammen sind.
Hätten Sie gegen Costa Rica
ohne jene Spieler mit gelber
Karte gespielt?
Comisetti: Nie! Nie!
Huggel: Ich auch nicht.
Comisetti: Das ist eine Weltmeisterschaft.
Und du bist zu jenem Zeitpunkt
noch nicht im Achtelfinal. Da musst du
mit den besten Spielern antreten.
Huggel: Und wenn du nicht nur an
den Achtelfinal, sondern auch an den
Viertelfinal denkst – dann holen sie
sich die gelbe Karte im Achtelfinal und
sind danach gesperrt.
Sie denken also bereits weiter?
Huggel: Als Trainer würde ich so denken,
ja. Du weisst ja nicht im Voraus, ob jemand
eine Verwarnung kassiert. Wenn es
so ist, dann haben wir ein 23-Mann-Kader.
Wenn nicht, spielt er durch.
Punkt.
Wie bringt es ein Spieler hin, dass
der Druck nicht lähmt, vor 45'000
Zuschauern auf der WM-Bühne zu
spielen?
Huggel: Für mich war das nie Druck. Je
mehr Zuschauer, desto besser. Natürlich
dachte ich: Hoffentlich passiert mir
kein schlimmer Fehler, dass mich die
Leute als Depp bezeichnen. Eines meiner
ersten Länderspiele war das entscheidende
Qualifikationsspiel für die EM
2004 in Basel gegen Irland (2:0-Sieg,
d.Red.), ich war ziemlich nervös. Dann
kam Murat Yakin und sagte mir: «Hey,
es ist Fussball, du kennst das!» Und genauso ist es für die Jungs auch in diesem
WM-Achtelfinal. Es ist, wie wenn du
gut vorbereitet an eine Prüfung gehst,
dann bist du auch nicht nervös.
Sind Sie, wenn Sie vor der Kamera
stehen, immer noch nervös?
Comisetti: Es ist schon nicht zu vergleichen
mit der Situation, wenn du
auf dem Feld stehst. Mit der Nationalmannschaft
musst du allerdings wirklich
aufpassen, was du sagst. Du darfst
nicht zu emotional sein, weil die Leute
diese Mannschaft mögen! Das ist in der
Romandie ziemlich speziell im Moment.
Wenn ich irgendetwas Negatives sage –
und sei es nur schon etwas, was die
TV-Zuschauer auf ihrem Sofa selbst
schon zehnmal sagten –, kriege ich
Hunderte Mails. Die Leute lieben diese
Mannschaft. Bei der Nati ist es fast wie
bei deiner Mutter oder deiner Frau, du
möchtest nichts Schlechtes über sie
hören, sonst ...
Huggel: Ich wäge auch genau ab, was
ich sage. Was vielleicht ein bisschen
anders ist: Ich denke, die Leute in der
Deutschschweiz mögen das Team zwar,
aber ich habe auch einige Kommentare
erhalten, dass ich zu wenig bissig sei.
Am Ende zählt immer das Resultat.
Deshalb hüte ich mich, das Team vorschnell
zu kritisieren. Das hat mich
schon als Spieler genervt. Wenn es 0:0
oder 0:1 steht zur Pause und alle
gepfiffen haben, dachte ich jeweils: «Was denkt ihr euch eigentlich?» Wenn
es am Schluss 0:3 steht, dann könnt
ihr pfeifen! Weil es dann ja auch nicht
gut war. Aber seit ich die Schweiz
begleite, seit dem Testspiel gegen
Griechenland, hat diese Mannschaft ja
noch nie verloren.
Also sind Sie ein Glücksbringer?
Huggel: Das müssen Sie schreiben!
(Lacht laut) Es ist Kritik auf sehr
hohem Niveau. Wenn die Mannschaft
liefern muss, liefert sie.
Comisetti: Ich bin jetzt seit elf Jahren
Co-Kommentator. Und ich kann Ihnen
sagen: Es war nicht immer so toll! Ich
mag mich erinnern ans Spiel gegen
Luxemburg. Die EM 2008 bei uns –
vier Tage und wir sind draussen! Dann
qualifizieren wir uns nicht für die EM
2012. Es war nicht immer schön.