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Streit wegen Lohndumpings am Zürcher HB: Kanton schwärzt die Unia an – zu Unrecht

Grzegorz, einer der polnischen Arbeiter, denen nach einem Fall von Lohndumping gekündigt wurde, aufgenommen am Streik auf der SBB-Baustelle am Zürcher Hauptbahnhof im Oktober 2013.
Grzegorz, einer der polnischen Arbeiter, denen nach einem Fall von Lohndumping gekündigt wurde, aufgenommen am Streik auf der SBB-Baustelle am Zürcher Hauptbahnhof im Oktober 2013.Bild: KEYSTONE
Ein Jahr nach dem Bauarbeiterstreik

Streit wegen Lohndumpings am Zürcher HB: Kanton schwärzt die Unia an – zu Unrecht

Der Zürcher Amtschef für Wirtschaft und Arbeit beschuldigt die Unia, grundlos 700'000 Franken blockiert zu haben. Nun zeigt sich: Der Amtschef hat sich geirrt. Konkret geht es um Lohndumping auf der Baustelle am Zürcher HB. 
06.11.2014, 06:5606.11.2014, 11:26
thomas schlittler / aargauer zeitung
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Ein Artikel von
Aargauer Zeitung

«Viel Lärm um nichts» titelte der Baumeisterverband in der Septemberausgabe seines internen Mitgliederblatts. Die Rede ist von einer medienwirksamen Baustellenblockade der Unia im Oktober 2013. Der Grund für die Blockade: Verdacht auf Lohndumping. 

Die umstrittene Aktion sorgte dafür, dass eine Brandschutzfirma, die im Auftrag der SBB an der Zürcher Durchmesserlinie arbeitete, 700'000 Franken blockieren musste. Mit dem Geld sollten rund 30 Scheinselbstständige aus Osteuropa nachträglich angemessen entlöhnt werden. 

Der Baumeisterverband behauptet in seinem Schreiben, dass das Sperrkonto auch ein Jahr später «praktisch unangetastet» sei. Und Bruno Sauter, der Chef des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich, lässt im Artikel verlauten, dass im Zusammenhang mit den Arbeiten an der Durchmesserlinie einzig bei drei Polen und zwei Litauern Verstösse gegen die Melde- und Dokumentationspflicht festgestellt worden seien. 

Seine Schlussfolgerung: «Es scheint, als sei die Forderung der Gewerkschaft einmal mehr übertrieben gewesen.» Und damit nicht genug. Sauter holt zum Rundumschlag aus: «Flächendeckendes Lohndumping gibt es entgegen Behauptungen in manchen Medienberichten nicht, der weitaus grösste Teil der Firmen hält sich in jedem Punkt an die Gesetze.» 

Amt für Wirtschaft und Arbeit: Nicht der erste Fauxpas des Chefs 
Bruno Sauter, Chef des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich, setzt sich mit seinen Aussagen über die Gewerkschaft Unia nicht zum ersten Mal in die Nesseln. Bereits 2013 sorgte er mit einer unbedachten Äusserung für Negativschlagzeilen: Sauter ärgerte sich über eine im kantonsinternen Intranet publizierte Kolumne des grünen Regierungsrats Martin Graf. Dieser rief zur Kürzung der Managersaläre auf. Sauter war über die Kolumne derart erbost, dass er an die Öffentlichkeit ging. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» kritisierte Sauter, dass Graf dem Kanton schade und es höchst problematisch sei, dass dieser für seine persönliche Propaganda den Kommunikationskanal des Kantons ausnutze. Als Sauter auch noch den Anschein erweckte, die Aussagen seien mit seinem Chef, Volkswirtschaftsminister Ernst Stocker, abgesprochen, überspannte er den Bogen: Regierungsrat Stocker distanzierte sich von Sauter und erteilte dem Amtschef einen Verweis. (tsc)

530'000 Franken ausbezahlt 

Sauters Anschuldigungen an die Adresse der Unia sind nachweislich falsch. «Die Nordwestschweiz» hatte Einblick in Dokumente, die beweisen, dass die blockierten 700'000 Franken grösstenteils aufgebraucht sind. 

Noch bevor das Sperrkonto eröffnet wurde, machte die verantwortliche AB Brandschutz AG neun Scheinselbstständigen eine Anzahlung von insgesamt 45'000 Franken in bar. Im Verlaufe der letzten zwölf Monate anerkannte die AB Brandschutz AG die Ansprüche von total 25 osteuropäischen Arbeitern. Diese erhielten vom Sperrkonto insgesamt 414'870 Franken ausbezahlt. Hinzu kommen offene Sozialversicherungsleistungen in der Höhe von rund 70'000 Franken. 

Insgesamt wurden von den blockierten 700'000 Franken also rund 530'000 Franken ausbezahlt. Von einem «praktisch unangetasteten» Sperrkonto kann deshalb nicht die Rede sein. 

Mit den Zahlen konfrontiert, verweist der Baumeisterverband auf Bruno Sauter, den Zürcher Amtschef für Wirtschaft und Arbeit: «Er ist unsere Informationsquelle. Für uns besteht kein Anlass, an seinen Aussagen zu zweifeln.» Sauter selbst reagiert auf eine E-Mail-Anfrage nicht. Über seine Medienstelle lässt er der «Nordwestschweiz» ausrichten: «Es überrascht, dass Ihnen von der Unia offensichtlich Informationen bereitgestellt wurden, die uns unbekannt sind.» 

Bruno Sauter, Chef des Amts für Wirtschaft und Arbeit, Kanton Zürich.
Bruno Sauter, Chef des Amts für Wirtschaft und Arbeit, Kanton Zürich.Bild: KEYSTONE

Schwarzpeterspiel geht weiter 

Der Streit zwischen der Unia und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich hat eine längere Vorgeschichte: Die Unia wirft der Behörde vor, bei der Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit und Lohndumping geltende Gesetze zu missachten und seiner Kontrolltätigkeit nicht nachzukommen

Konkret stört sich die Unia daran, dass das Amt für Wirtschaft und Arbeit ausländischen Arbeitnehmern ohne gründliche Prüfung eine Arbeitsbewilligung als Selbstständige ausstelle. Und selbst wenn es begründeten Verdacht auf Scheinselbstständigkeit und Lohndumping gebe, weigere sich die Behörde, entsprechende Baustellen zu schliessen. 

Jetzt auf

Das Amt für Wirtschaft und Arbeit weist diese Vorwürfe in aller Form zurück. Bei der Ausstellung von Arbeitsbewilligungen an ausländische Selbstständige halte man sich an die geltenden Richtlinien. Und für eine Baustellenschliessung habe man gar nicht die Kompetenz. 

Man könne lediglich einen Arbeitsunterbruch für bestimmte Personen anordnen, sofern sich ein als selbstständig gemeldeter Arbeiter nicht als solcher ausweisen kann. Dies sei bei den Arbeitern auf der Durchmesserlinie-Baustelle jedoch nur bei fünf Personen der Fall gewesen. 

Für den Lohndumping-Fall auf der Baustelle Durchmesserlinie sei deshalb die Paritätische Kommission Isoliergewerbe zuständig gewesen, so das Amt für Wirtschaft und Arbeit. Die Paritätische Kommission setzt sich zusammen aus Vertretern des Arbeitgeberverbands Isolsuisse – und der Gewerkschaft Unia. Das Schwarzpeterspiel geht also munter weiter. 

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