Manchmal fehlt schlicht und einfach die Zeit für Trauer. Es kann vorkommen, dass ich mitten in einem schweren Gespräch mit Angehörigen stehe und die Krankenschwester platzt herein mit dem nächsten Notfall. Dann geht es Schlag auf Schlag. Im Ausland manchmal 24 Stunden lang – es können aber auch mal 36 Stunden werden.
Wer auf die Dauer solche Schichten aushalten will, muss mit den eigenen Kräften ökonomisch umgehen. Dazu gehört die Kontrolle der Emotionen – ein Häufchen Elend hilft dem nächsten Patienten nichts. Und auch er hat Anrecht auf die bestmögliche Behandlung. Hast du deine Emotionen nicht unter Kontrolle, brichst du irgendwann zusammen.
Ein Spital ist ein Hort glücklicher und trauriger Geschichten – beides ist Teil des Berufes. Das macht die Kontrolle der Emotionen nicht immer einfach – mit einigen Patienten baut man eine Verbindung auf.
Als wir einem Teenager einmal einen Tumor entfernten, zeigte der Patient für einen Augenblick plötzlich keine Lebenszeichen mehr. In solchen Momenten rutscht dir das Herz schon einmal kurz in die Hose.
Als guter Chirurg hast du aber immer einen Workflow im Kopf, du hast immer einen nächsten Plan. Dieser Workflow hilft dir, dich auf deine Arbeit zu konzentrieren und dich von Gedanken an mögliche Konsequenzen abzulenken. Dieser Workflow hilft, dass man nicht wie gelähmt dasitzt.
Ich denke, die Situation im Operationssaal lässt sich vergleichen mit einem Elfmeterschiessen beim WM-Finale. Auch da stellt sich der Laie die Frage, wie die Spieler den Druck auf den Schultern aushalten können. Doch ich bin mir sicher: Richtig erfolgreiche Schützen blenden das grosse Bild aus. Sie blenden aus, dass sie im WM-Finale stehen, dass ihnen eine Milliarde Menschen zuguckt. Sie versuchen, sich auf ihre eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Und genau das versuche ich auch.
Als Chirurg wirst du dafür ausgebildet, dass du dich bei entsprechenden Situationen nur auf die Sache konzentrierst: Du schaust durchs Mikroskop, du schaust auf dein OP-Feld. Das ist alles, was dich interessiert. Für alles andere gibt es keinen Platz.
Die anderen Gedanken kommen erst danach. Was, wenn der Teenager nicht überlebt hätte? Wie hätten wir das den Eltern beigebracht? Seinen Geschwistern?
Glücklicherweise kam im besagten Fall am Ende alles gut, die Operation konnte fortgeführt werden und der Patient ist wieder aufgewacht.
Fehler passieren auch den besten Chirurgen. Während einer Operation verletzte einer meiner Chefs eine wichtige Ader. Das Blut sprudelte nur so heraus. Der Chef blieb völlig ruhig. Seine Stimmung übertrug sich auf den gesamten Saal – jeder wusste, was zu tun war, und die heikle Situation konnte gemeistert werden.
An eine juristische Klage habe ich in meiner Karriere noch keine Sekunde gedacht. Von den USA hört man dies immer wieder – ich kenne mich damit zu wenig aus. Ich glaube, wenn man mit der Angst vor einer Klage in eine OP geht, dann kommt es nicht gut.
Auslöser für unvorhergesehene Ereignisse sind sowieso nur in den seltensten Fällen Ärztefehler: Manchmal drückt ein Tumor auf eine sensible Stelle. Oder die Regulationsmechanismen des Körpers kommen mit den Manipulationen während der OP nicht klar.
Ich erinnere mich an einen Fall, als der Patient mit einer offenen Wunde während der Operation einen Herzstillstand erlitt. Er hatte einen bisher nicht erkannten Herzfehler.
Als Chirurg trittst du in dem Moment zurück und überlässt das Feld der Anästhesie. Sie übernimmt die Leitung, bis der Patient stabil ist.
Medizin – das wird oft vergessen – ist Teamwork. Und deshalb funktioniert der Fussballvergleich auch hier: Der Ball liegt in diesem Moment nicht mehr bei mir, sondern bei einem Kollegen. Das bedeutet nicht, dass mich das Spiel nichts mehr angeht. Das Spiel ohne Ball ist ebenso wichtig und ich verfolge das Geschehen genauso akribisch – bringe mich in Stellung, damit ich wieder angespielt werden kann.
Das Herz des Patienten begann keine 20 Sekunden später wieder zu schlagen und die Operation konnte fortgeführt werden. Das Teamwork hatte funktioniert.
Das Schwierigste überhaupt an unserer Ausbildung ist, daneben ein geregeltes Leben zu führen, eine Beziehung zu pflegen, sich nicht abzunabeln. Für mich ist dies die schwierigste Herausforderung – ich habe selber eine Familie.
Wenn man konstant 80 bis 120 Stunden pro Woche hinlegt, dann nagt dieses Pensum irgendwann an dir, genauso wie der konstante Schlafentzug und die andauernden Nachtschichten. Man verändert sich: Du wirst eine andere Person. Für die Ehefrau ist diese Situation wahnsinnig schwierig.
Wenn du in der Phase auch noch Kinder aufziehen willst, ist das eine fast unerträgliche Belastung. Ohne extrem starken Partner geht es nicht. Viele Beziehungen gehen in der Phase in die Brüche.
Man muss sich das so vorstellen: Als assistierender Chirurg gehst du frühmorgens zur Arbeit. Wenn du Glück hast, kommst du nach 12 Stunden bereits wieder nach Hause, gehst eine Runde joggen, um auszulüften, musst dich dann aber wieder hinsetzen, um dich für die nächste Operation vorzubereiten. Zeit für die Familie bleibt keine. Irgendwann merkst du, dass du eigentlich gar nicht mehr dazugehörst.
Bei den Freunden ist es dasselbe. Wieso sollen mich meine Freunde einladen, wenn ich nie Zeit habe?
Wer Chirurg werden will, unterwirft sein gesamtes Leben diesem einen Traum. Und man benötigt dazu die Unterstützung der Freunde und der Familie. Alle müssen fünf Jahre lang am selben Strick ziehen und bereit sein, dass du in dieser Zeit wenig bis nichts zurück gibst. Nur so überlebst du die Ausbildung. Sonst schaffst du es nicht.
Trotzdem halte ich das enorme Pensum für berechtigt. Um ein guter Chirurg zu werden, muss man so viele Fälle wie nur möglich gesehen haben. Chirurgie benötigt nun einmal mehr Zeit als andere medizinische Fächer. In der Schweiz darf man nicht länger als 50 Stunden pro Woche arbeiten – ich persönlich stimme dieser Regelung nicht zu. Mit 50 Stunden pro Woche wird es schwierig, ein guter Chirurg zu werden.
Ein Grossteil der Ausbildung besteht für junge Chirurgen aber auch darin, dem Vorgesetzten den Rücken frei zu halten. Da gibt es noch viel Optimierungsmöglichkeiten. An jungen Chirurgen bleibt unnötig viel Bürokratie hängen, Arbeiten, die keine Voraussetzungen sind, um ein grosser Arzt zu sein.
Stattdessen müsste man die jungen Chirurgen psychisch und mental besser unterstützen. In einem Spital herrscht eine militärische Hierarchie, und tatsächlich wird die Grenze zum psychischen Missbrauch manchmal strapaziert.
Problematisch sind für mich weniger die vielen Arbeitsstunden, sondern die Qualität dieser Stunden. In einem guten Team mit einer angenehmen Stimmung zehren zwölf Stunden weniger als drei Stunden unter psychischem Terror. Dort müsste man in der Ausbildung der Ärzte ansetzen. Die Medizin könnte da viel von der Wirtschaft und vom Sport abgucken: Wie kann man Leistung steigern?
Im Moment wird man als junger Chirurg mehr oder weniger konzeptlos in einen Topf geworfen, und wer darin überlebt, gibt seine Erfahrungen an die nächste Generation genauso schonungslos weiter. Das muss sich ändern.
Irgendwann habe ich für mich einen Weg gefunden, mit dem Stress und dem Druck fertig zu werden. Und zwar behandle ich das Spital wie eine Schublade. Wenn ich nach einer langen Schicht an die frIsche Luft trete, den Wind spüre und höre, wie sich hinter mir die Schiebetür schliesst, dann schliesse ich auch diese Schublade. Dann lasse ich alles hinter mir, gehe eine Runde joggen und habe nachher wieder einen frischen Kopf: Um mich auf den nächsten Tag vorzubereiten.
(Aufgezeichnet von watson)
Auf alle Fälle bekommen Ärzte meinen grössten Respekt, läuft eine Operation schief hört man immer davon, von allen gelungenen leider weniger.
Aber so richtig wohl ist mir nicht dabei. Klar kann man seinem Körper viel abverlangen und je nach Person fast Tag und Nacht arbeiten. Nur: das steigert die Arbeitsqualität nicht.
Nicht ohne Grund haben Chauffeure und Lokführer feste Ruhezeiten, die immer einzuhalten sind, auch wenn man sich noch fit fühlt. Es ist mir unerklärlich, weshalb das für Chirurgen nicht gelten soll, schliesslich ist deren Arbeit ja auch mit immenser Verantwortung verbunden.