«Bestandesaufnahme Gurlitt» beleuchtet Kunstwerke als Zeitzeugen

«Bestandesaufnahme Gurlitt» beleuchtet Kunstwerke als Zeitzeugen

01.11.2017, 15:28

Der Schleier über dem spektakulären Kunstfund Gurlitt ist gelüftet: Das Kunstmuseum Bern und die Bundeskunsthalle im Bonn präsentieren rund 400 Werke aus den Beständen der deutschen Kunsthändlerfamilie Gurlitt aus der NS-Zeit.

Die Ausstellung gleicht einem Stelldichein der klassischen Moderne: An den Wänden hängen Werke von Lovis Corinth, Max Beckmann, Georges Grosz, Otto Dix, Otto Mueller, Käthe Kollwitz, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nodle, Edvard Munch und vielen mehr.

Die meisten Werke sind allerdings Papierbilder, also Aquarelle, Gouachen, Farbholzschnitte, Zeichnungen und Druckgraphik. Darunter finden sich herausragende Kunstwerke des Symbolismus, des Expressionismus, des Konstruktivismus und der Neuen Sachlichkeit. Ölbilder finden sich hingegen kaum.

Zusammengetragen hat das Konvolut Hildebrand Gurlitt, einem für die Nationalsozialisten tätigen Kunsthändler. Nach dessen Tod ging die Sammlung an dessen Sohn Cornelius, der sie bei sich zu Hause mit grösster Diskretion hütete.

Eher zufällig stiessen die deutschen Behörden 2012 in der Wohnung von Cornelius Gurlitt auf die Kunstsammlung und beschlagnahmten sie. Die Weltpresse berichtete über einen milliardenschweren Naziraubkunstschatz. Doch davon kann heute keine Rede mehr sein. Ebenso wenig ist der Gurlitt-Nachlass aber eine zweitklassige Grafiksammlung, wie gelegentlich auch kolportiert wurde.

Wichtige Aufarbeitung

«Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte», wie Nina Zimmer, Direktorin des Kunstmuseums Bern auf entsprechende Fragen jeweils zu antworten pflegte. Das Haus wurde 2014 von Cornelius Gurlitt überraschend mit dem raubkunstverdächtigen Konvolut bedacht.

Gemeinsam mit Deutschen Behörden vereinbarte das Berner Haus die Aufarbeitung des schwierigen Erbes. Dazu gehört auch eine Ausstellung der Werke, die auch den historisch belasteten Kontext aufzeigt.

Der Berner Teil der Doppelausstellung zeigt Künstlerinnen und Künstler, deren Werke von den Nationalsozialisten als «entartet» diffamiert und aus Museen entfernt wurden. Das Berner Haus beleuchtet die politischen Vorgänge der Zeit. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Schicksalen der von der Feme betroffenen Künstlerinnen und Künstler.

Mit ihnen verknüpft sind die schillernden und widersprüchlichen Figuren von Vater und Sohn Gurlitt. Namentlich Vater Gurlitts Werdegang vom Museumsdirektor und Verfechter der Avantgarde zum wichtigen Kunsthändler im «Dritten Reich» wird ausgeleuchtet.

Ein Grossteil der Berner Ausstellung widmet sich dem historischen Kontext. Daneben sollen auch die Kunstwerke aber auch für sich selbst sprechen. Und das tun sie auch: zu sehen sind eindrückliche, ausdrucksstarke Werke, jedes mit einer ganz eigenen Geschichte.

Zu lange zu passiv

Der Bonner Teil der Ausstellung widmet sich dem Thema Raubkunst und damit auf der Enteignung vor allem jüdischer Sammler. Der Kunstraub der Nationalsozialisten berge auch heute noch viele offene Fragen, wie Reinhard Wolfs, Intendant der Bundeskunsthalle am Mittwoch vor den Medien sagte.

Laut Wolfs ist es wichtig «einzugestehen, dass es zu lange und in breitem Ausmass versäumt wurde, Unrecht zu sühnen und Restitutionen proaktiv voranzutreiben».

Der Fall Gurlitt hat die Debatte über dem Umgang mit enteigneten Vermögenswerten durch ein Unrechtsregime in der breiten Öffentlichkeit wieder ins Rollen gebracht, auch in der Schweiz.

Das Kunstmuseum Bern hat sich mit der Annahme der Gurlitt-Erbschaft für eine proaktivere Haltung in Restitutionsfragen entschieden. In der Schweiz ist die Meinung verbreitet, dass nur Raubkunst zurückgegeben werden muss. Doch oft mussten Verfolgte Vermögenswerte auch zu minderwertigen Preisen verkaufen, um sich beispielsweise die Flucht zu finanzieren. Sie waren bislang von Rückforderungen ausgenommen.

Egal, ob Raub- oder Fluchtgut: entscheidend könne aus Sicht des Kunstmuseums Bern nur sein, ob der Verlust eines Werks eindeutig im Zusammenhang mit Verfolgung stehe, wie Marcel Brülhart, Vizepräsident der Dachstiftung Kunstmuseum Bern-Zentrum Paul Klee sagte.

Deutschland bekennt sich seit längerem zu dieser Haltung. In der Schweiz hat der Fall Gurlitt diese Thematik zumindest dynamisiert. Sie hoffe, dass der Fall Gurlitt «so viele schlafende Hunde wie möglich geweckt hat», sagte die Berner Museumsdirektorin Nina Zimmer am Mittwoch. (sda)

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