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Kulturgeschichte der Lüge: Warum sie hässlich ist

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bild: pikram/mr.babies/watson

Warum die Lüge etwas Hässliches ist

Im zweiten Teil dieser Kulturgeschichte der Lüge werden wir uns der unschönen Seite des menschlichen Täuschungsgeschäfts zuwenden – besonders den unheilvollen Ideologien des 20. Jahrhunderts.
02.06.2019, 13:3620.06.2019, 09:48
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Hier geht's zum ersten Teil:

«Das Lügen und das Dichten sind Künste.»
Oscar Wilde (1854 - 1900)

Die künstlerische Lüge hört da auf, schön zu sein, wo sie den Bereich der Phantasie verlässt, wo sie nicht mehr nur für sich selbst steht, sondern sich zu einem bestimmten Zweck in die Realität einschleicht, sie im schlimmsten Fall gänzlich überlagert.

Das passiert gern, wenn die Lüge an eine Machtperson gebunden ist. Denn der Mächtige kann bestimmen, was Wahrheit ist.

Der römische Kaiser Nero (37–68) wollte im Grunde seines Herzens wohl lieber ein Künstler als ein Imperator sein. Immer wieder trat er mit seiner Kithara auf die Bühnen seines Reiches. Der römische Geschichtsschreiber Sueton überliefert uns gar, Nero habe dafür ganz Rom ins Theater geladen, die Türen verrammelt und die Leute dann stundenlang grauenhaft schlecht zwangsbesungen. Frauen hätten während seiner Vorstellung Kinder geboren und viele Leute, «des Zuhörens und Lobens müde», hätten sich totgestellt, damit man sie heraustrage.

Man musste die kaiserliche Darbietung loben, Begeisterung zu heucheln war lebenserhaltend. Und um diese noch zusätzlich anzuheizen, soll der Kaiser sogar schöne junge Männer fürs ordentliche Klatschen bezahlt haben.

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In diesem Feuerbart vereinten sich auf ganz eigenwillige Weise uneingeschränkte kaiserliche Macht mit dem Wunsch nach Anerkennung seiner künstlerischen Fähigkeiten. Ersteres aber braucht ein Volk, das es zu regieren gilt, Letzteres ein klatschendes Publikum. Mit der einen Hand das Szepter schwingend, mit der anderen nach dem olympischen Siegeskranz heischend, tritt Nero auf die Weltbühne.

Aus Theater wird gleichsam Politik und aus Politik wird Theater. Der Kaiser sowie die Zuschauer werden zu Schauspielern, die sich gegenseitig in ihrer kaiserlich-künstlerischen oder gespielt-gekünstelten Rolle bestätigen.

Nicht immer ist die Verwandtschaft von Politik und Schauspielerei so explizit wie zu Neros Zeiten, aber sie ist doch stets vorhanden. Hier zählt der Schein mehr als das Sein. Machiavelli warnt in seinem «Principe» (1513) die Fürsten vor den Speichelleckern an ihren Höfen – diese würden nicht die Wahrheit sagen –, während der Monarch selbst natürlich jedes Recht hat, seine Untertanen zu belügen. In einer solchen Welt diktiert der Stärkere die Regeln.

Erstaunlicherweise aber waren nicht die Höfe absolutistischer Herrscher die Treibhäuser der Lüge. In den nachfolgenden parlamentarischen Demokratien gediehen sie noch viel besser. In dem System, das die Gewalten teilte, dort, wo die Öffentlichkeit zum Zwecke der Entlarvung der Lügen erschaffen worden war, schlugen sie Wurzeln und überwucherten mit ihrem mannigfaltigen Blätterwerk bald den ganzen politischen Betrieb.

Die Lüge wird institutionalisiert, universal. Und dort, wo sie einmal Kunst war, wird sie nun Propaganda. Und auch die Presse macht mit bei der totalen Mobilmachung, eine unabhängige Berichterstattung gibt es nicht. Wie sonst hätte man Millionen von Menschen für einen Krieg zu begeistern vermögen? Wo die Lüge früher Teile der Wirklichkeit verbarg, vernichtet sie sie jetzt ganz durch Imitation.

Und während im Cabaret Voltaire in Zürich Studenten und Ausländer den Lautgedichten der Dadaisten lauschten, fielen bei Verdun und an der Somme im ersten Halbjahr 1916 eine Million Soldaten.

Hugo Ball (1886–1927) versuchte, mit Dada der lügnerischen Sprache zu entfliehen. Einer Sprache, die es schaffte, eine Gegenwelt zu erschaffen, in der die Leiden des Krieges nicht existierten. In seinem Eröffnungs-Manifest zum ersten Dada-Abend heisst es:

«Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die Sprache zu verzichten. Dada Johann Fuchsgang Goethe. Dada Stendhal. Dada Buddha, Dalai Lama, Dada m'dada, Dada m'dada, Dada mhm' dada. Auf die Verbindung kommt es an, und dass sie vorher ein bisschen unterbrochen wird. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andere erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen. [...]

Ein Vers ist die Gelegenheit, möglichst ohne Worte und ohne die Sprache auszukommen. Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt.»

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Er will die Konventionen, auf denen Sprache beruht, nicht mehr einhalten – «Warum kann der Baum nicht Pluplusch heissen?» –, er verweigert sich der gängigen Kommunikation, weil ihm jegliche damit verbundene Absichten lügnerisch erscheinen müssen in einer Welt, in der das Morden und das massenweise Sterben fürs Vaterland freudig zelebriert werden.

Erich Maria Remarque war der erste Deutsche, der das wahre Gesicht jener blutigen Schlachtfelder beschrieb. Sein Roman «Im Westen nichts Neues» (1929) beschönigte nichts. Und ebenso wenig erfuhr der Soldat darin eine Heroisierung. Denn an diesem Krieg, in dem Remarque selbst kurz im Fronteinsatz stand, war nichts Heldenhaftes. «Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung», sagt der noch nicht 20-jährige Protagonist Paul Bäumer. Und überall liegen die Toten. Die Halbtoten halten das heraustretende Gedärm mit ihren Händen zurück. Und irgendwo versucht einer, mit zerschmetterten Gliedmassen davonzukriechen.

Und kaum ist der Pulverdampf über Europa verraucht, fegt schon die nächste grosse Lüge durch die ruinierten Strassen. Den Parlamentarismus der jungen Weimarer Republik wollen die wenigsten und in den tristen Hinterhöfen dieser «Demokratie ohne Demokraten» erzählt man sich, das deutsche Heer sei im Felde tatsächlich unbesiegt geblieben. Durch Verräter und Reichsfeinde aus der sozialdemokratischen und kommunistischen Ecke hätte es einen Dolchstoss von hinten erhalten. Eine Propagandalüge, die die Geschichte für die Deutschen wohlwollend zurechtbiegen sollte und auf der der Nationalsozialismus wunderbar sein hässliches Imperium zu errichten vermochte.

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Denn bald stand im Schatten des «Versailler Schmachfriedens» ein Mann auf, der die zerschmetterte Selbstachtung der Deutschen wieder aufzurichten wusste. Hitler gelingt es, einen totalitären Staat aufzubauen, der den Menschen wieder Sicherheit verspricht – allerdings zum Preis der Unterwerfung. Aller Freiheit enthoben unterwarf sich diese «Volksgemeinschaft» der absoluten Wahrheit eines faschistischen Staates. Eine Wahrheit, die mittels scheinwissenschaftlicher Theorien wie der Rassenkunde verkündete, dass Juden Untermenschen seien. Und an deren Ende die Konzentrationslager standen.

Der Anfang dieser fatalsten aller Verleumdungen liegt viele Jahrhunderte zurück. Die frühesten Christen schimpften die Juden Christusmörder, im Mittelalter beschuldigte man sie mit Vorliebe der Hostienschändung oder der Brunnenvergiftung und auch die Legende von den Kinder mordenden Juden wurde quer durch alle Jahrhunderte hindurch gerne erzählt. Mit solcherlei falschen Anschuldigungen liessen sich die Unterdrückung dieser Menschen und die fürchterlichen Pogrome gegen sie prächtig rechtfertigen.

Der grobschlächtige Bauernsohn Martin Luther (1483–1546) konnte für seine feurigen Polemiken dann auch schon auf eine beachtliche Anzahl antijüdischer Schriften zurückgreifen. Um des Heils des neuen, nun endlich wahrhaft christlichen Glaubens willen war ihm jedes Mittel recht. Aus den bebenden und fluchwütigen Zeilen des Reformationsvaters tönt es ganz anders als noch bei Augustinus (vgl. Teil 1), der das Lügen unter allen Umständen für verwerflich hielt.

Luthers «Über die Juden und ihre Lügen» (1543) ist ganz im Geiste der damaligen Kontroverstheologie verfasst, die keine Argumente brauchte, sondern nur in ausnehmend gehässiger Manier die Sichtweise der anderen Glaubensrichtung als Teufels Wort brandmarkte.

Lügner und Bluthunde seien die Juden, die die Heilige Schrift mit ihren erlogenen Glossen verfälscht hätten. «Ein boshaftes, halsstarriges Volk aus ruhmredigen, hoffärtigen Schelmen, die bis auf diesen Tag nichts mehr können, als sich selbst rühmen ihres Stammes und Geblütes, sich allein loben und die Welt verachten und verfluchen in ihren Schulen, Gebeten und Lehren.» Zuletzt fordert er von der Obrigkeit, man möge ihre Synagogen niederbrennen und ihre Häuser zerstören, sie ihres juristischen Schutzes berauben und «den jungen starken Juden und Jüdinnen Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel in die Hand geben und sie ihr Brot verdienen lassen im Schweisse der Nasen, wie Adams Kindern auferlegt ist.»

Und er schliesst mit den Worten:

«Das alles muss getan werden, um unsere Seelen zu retten vor den Juden, also vor dem Teufel und der ewigen Verdammnis.»
Martin Luther, Über die Lügen der Juden (1543)

Luther sah sich im moralischen Kampf gegen die Lüge. Er glaubte, im Besitze der Wahrheit zu sein. Und die Wut, mit der er die Entlarvung der Lügen der Anderen betrieb, führte zu einem ungeheuerlichen Missbrauch des Moralischen. Der Kampf gegen die Lüge kann also vom Resultat her schlimmer sein als die Lüge selbst. Sie kann zu einer Diktatur des Moralischen führen.

Und während den Verleumder eine Aura der Rechtschaffenheit umgibt, wird dem Verleumdeten, selbst wenn seine Unschuld längst feststeht, stets der Schatten des Zweifels anhaften. Wohin er sich auch wenden mag, er wird den Leuten verdächtig bleiben.

Rund vierhundert Jahre nach Luther erschien ein Buch, das ähnliche Vorstellungen verbreitete. Doch Hitlers «Mein Kampf» (1925) musste nicht länger zum vulgären Mittel der Lüge zurückgreifen. Die Zweifel waren längst gesät, die Mythen über die verräterischen und weltweit organisierten Finanzjuden in der gebeutelten Weimarer Republik bereits gefestigt. Weder die Säkularisierung noch die Aufklärung hatten dem Antisemitismus die Grundlage entzogen.

In klaren, unmissverständlichen Worten stand der Wahnsinn in Hitlers Manifest geschrieben. Offen verkündete er seine völkische Wahrheit, welche die Rassengleichheit ablehnte und den «Sieg des Besseren und Stärkeren» verlangte. Die «überlegene Herrenrasse», jenes «höchste Ebenbild Gottes», solle die Welt besitzen und alle vernichten, die nicht dazugehören.

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Die Gedanken einer kulturellen Überlegenheit waren Europa nun auch nicht neu, durch einen fehlinterpretierten Darwinismus rechtfertigte man bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Unterdrückungsmassnahmen der gierigen Imperialisten-Finger, die nach Afrika griffen. Man sprach von den «Primitiven» auf dem schwarzen Kontinent, die es zu zivilisieren galt. Zu dieser «mission civilisatrice» gesellten sich bald auch biologische Argumente, gebastelt aus scheinwissenschaftlichem Material. Und so hiess es am Ende: Jüdisch-Sein, das ist ein unauslöschlicher Makel. Da ist keine Entwicklung mehr möglich.

An diesem Punkt ist es dann auch völlig egal geworden, ob die Juden lügen oder nicht. Man braucht sie nicht mehr zu verunglimpfen, ihre angebliche Minderwertigkeit wird nicht mehr moralisch hergeleitet wie bei Luther, sondern pseudobiologisch an der Rasse, am Blut festgemacht.

Und eben dieser grossen ideologischen Lüge wird nun alles untergeordnet. Sie bekommt einen wissenschaftlichen Anstrich dadurch, dass sie eisern ihrer Logik folgt, scheinbar rational die Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen zieht – und so Millionen von Menschen hinmordet.

Welch grauenvoller Missbrauch des Vernunftvermögens, auf das Kant 160 Jahre zuvor noch seine gesamte Ethik aufgebaut hatte. Wenn die Prämissen, wie im Falle des Nationalsozialismus, derart ideologisch verbogen sind, ist es genau die modern wissenschaftliche, industrialisierte und kühl berechnende Weiterführung derselben, die zu dieser total entmenschlichten Vernichtungsmaschinerie führte.

Die Wissenschaft gilt uns als Wahrheitshüterin, weil sie auf einem Beweisverfahren beruht, weil sie bei der Erlangung ihrer Erkenntnisse nichts miteinbezieht, was ausserhalb ihrer selbst liegt. Sie arbeitet mit dem Massstab der Objektivität.

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Das mag in Bezug auf ihre Methodik grösstenteils zutreffen, lässt man einmal die absurdesten Auswüchse nationalsozialistischer Fächer wie die Deutsche Physik – die die «jüdische» Relativitätstheorie Einsteins als «zu wenig anschaulich und zu wenig intuitiv» ablehnte – ausser Acht.

Doch als neutral kann die Wissenschaft dennoch nicht bezeichnet werden. Wissenschaft und Politik sind stets miteinander verwoben. Fritz Haber wäre nicht als «Vater des Gaskriegs» in die Geschichte eingegangen, wäre da nicht der Erste Weltkrieg gewesen, der die dazu benötigte Grundlagenforschung überhaupt erst ermöglicht hatte.

«Der Wissenschaftler gehört im Frieden der Menschheit, im Krieg aber dem Vaterland.»
Fritz Haber

Habers Vaterland vertritt im Zweiten Weltkrieg eine Angriffsideologie, die einer gnadenlosen Vernichtungslogik folgte. Biologen betrieben Zuchtforschung für neue Pflanzen, die für den «Lebensraum im Osten» gedacht waren. Die medizinische Fakultät Jena testete an KZ-Buchenwald-Häftlingen Typhus-Erreger und infizierte sie mit Fleckfieber. Manch ein Mediziner nutzte die menschlichen Entgrenzungen der NS-Ideologie für seine Forschungsziele. Und manch ein Astronom wusste genau, dass er die Sonnenüberwachung nur ausbauen konnte, wenn er sie der Luftwaffe als «kriegswichtig» verkaufen konnte.

Und diese Luftwaffe war es, die ihre Bomben über Europa niederliess, auf dass die arische Herrenrasse bald die Welt regiere. Hitler machte niemals einen Hehl aus seinem Vorhaben. Und vielleicht darum ist dies der tragischste aller Betrüge an der Menschheit. Ein Betrug mit der Wahrheit, die erst niemand glauben wollte.

Eine ausgrenzende Rassendiktatur braucht sich schlicht nicht über die Wirklichkeit hinwegzulügen, denn sie will das Andere zerstören und nicht retten. Kommunistische Diktaturen hingegen haben gemäss ihrer Programmatik keine Selbstinteressen, sondern nur Klassen-, sprich Menschheitsinteressen. Das zwingt sie dazu, stets die Zustimmung aller haben zu müssen. Es ist politisch-ideologisch unmöglich, weniger als hundert Prozent Zustimmung zu bekommen, schliesslich sind sie die säkularisierten Erlöser der Menschheit. Auch wenn Millionen Menschen verhungern, es wird einfach über die Not hinweggelogen. Kolchosen sind die Zukunft, die Planwirtschaft funktioniert!

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Bis zur Selbstaufgabe wird an der Lüge festgehalten, unschuldige Genossen gestanden in Stalins Schauprozessen (1936–1938) Dinge, die sie niemals verbrochen hatten. Sie bewiesen ihre unverbrüchliche Treue damit, dass sie logen, sich in Selbstkritik ergingen, und das, obwohl sie ganz genau wussten, dass dies ihren Tod bedeutet. Und so starben sie als Märtyrer für ihre Partei, die doch niemals falsch lag.

In dieser Welt existierte überhaupt keine Wahrheit mehr. Die Versprechen waren längst uneinlösbar geworden und allein der Terror vermochte dieses riesenhafte Lügengebäude vor dem Zusammensturz bewahren.

Das sowjetische Politbüro bediente sich zur Darstellung der aktuellsten Lüge eines Mediums, das man bei seiner Geburt für seine untrügliche Wahrheitsproduktion feierte – die Fotografie. Schnell gelangte man jedoch zur Einsicht, dass diese neue Technik alles andere als eine objektive Realität abbildete. Dass ein Bild immer schon zum Zeitpunkt der Entstehung eine Illusion ist, eine Perspektive, eine auf ein Viereck reduzierte Sichtweise. Und Stalin brachte diese Kunst zur vollen Blüte. Nach und nach wurden seine Freunde zu Feinden und verschwanden aus den Bildern, während andere an ihrer Stelle auftauchten. Die Fotos mussten laufend an die sich ändernde Sympathielage des paranoid gewordenen Diktators angepasst werden. Man erfand die Vergangenheit, die sich aus der Gegenwart speiste.

Die Ceauşescu-Regierung in Rumänien fälschte sogar den Wetterbericht. Die Menschen sollten glauben, sie würden sich nur einbilden, so entsetzlich zu frieren. An den fehlenden Brennstoffen lag es ja sicher nicht.

Die Lüge durchdrang alles. Und jedes Nachfragen, jede winzige Abweichung vom Dogma war Verrat, bedeutete Zweifel am Sinn und Bestand, am Frieden dieser heilsversprechenden Ordnung. Was mit Marx und Engels einst als Ideologiekritik begann, artete abermals in eine Ideologie aus.

In ihrer «deutschen Ideologie» (1845) schrieben sie, dass die herrschenden Gedanken einer Epoche stets nur der ideelle Ausdruck der Herrschaft dieser Klasse seien. Weil diese Klasse ihre Herrschaft absolut setzen wolle, sehe sie die gesellschaftlichen Verhältnisse unabhängig vom augenblicklichen Stand der Entwicklung der Produktivkräfte.

Genauso wie Luther die Ständeordnung mitsamt den Leibeigenen als gottgegeben sah – schliesslich habe auch Abraham Sklaven gehabt –, folgern die Herrschenden des 19. Jahrhunderts ihre Herrschaft aus der «Natur des Menschen».

Doch die Interessen der Machthaber sind nicht die Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft, sie werden nur als die einzig gültigen dargestellt. Diese grosse Interessen- und Gedankenlüge, das Bewusstsein der herrschenden Klasse, das allen anderen aufgedrängt wird, bezeichnen Marx und Engels als Ideologie. Und diese könne nur durch eine Revolution beseitigt werden, in der man die materiellen Verhältnisse umwälzt.

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Denn, so die unausgesprochene Voraussetzung der marxschen Ideologielehre, nur der Vermögende unterliegt jener Täuschung gegebener und gewollter Verhältnisse. Der Arme habe ja nichts zu verlieren als seine Ketten. Und eben hier liegt der Denkfehler, der Selbstbetrug, zu dessen Aufdeckung diese Lehre eigentlich angetreten war: Täuschungen gehören immer schon zum Lebensvollzug dazu, davon ist die Arbeiterklasse nicht ausgeschlossen. Auch die Besitzlosen sind nicht im Besitze eines reinen, wesentlichen Denkens, auch sie befinden sich nicht in einer «natürlichen» Lage. Der vierte Stand ist genauso ein Produkt seiner Zeit und keine bleibende historische Gruppe.

Welch grausame Ironie, dass die Ideologiekritik am Ende dem imaginären Gespenst eines real existierenden Sozialismus auf den Leim ging. Als Instrument in den Händen einer Parteidikatur, die sich ihre hehren Ziele auf die eigenen Fahnen schrieb, verhalf sie dem Kommunismus zu seinem Siegeszug geistiger Entmündigung und materieller Enteignung. Stützte einen Lügenstaat, der unaufhörlich und mit beispiellosem Machtzynismus die Wahrheit eines vierten Standes verkündete, während er dessen nie gezählte Menschenmassen verschlang, die er zu befreien versprochen hatte.

Das 20. Jahrhundert hatte die Aufklärung Lügen gestraft. Es war das Jahrhundert der Massentäuschung. Der Mensch, so stellten Horkheimer und Adorno in ihrer «Dialektik der Aufklärung» (1944) fest, war wieder in den überwunden geglaubten Mythos zurückgefallen. In eine moderne Form von Barbarei. Sein Vernunftvermögen sei nicht ethisch, so wie sich Kant das wünschte, sondern herrschaftsgetrieben. Man habe sich in der (abendländischen) Menschheitsgeschichte die Welt allmählich angeeignet, indem man erst ihre unentdeckten Teile eroberte, sie in Karten einzeichnete, ihr die Ressourcen auspresste, sie zu berechnen lernte, in Formeln drückte, um sie dann industriell millionenfach zu reproduzieren. Mit ihr unterwarf sich dann auch der Mensch selbst dieser «Vernutzung» – wie es der technikfeindliche Philosoph Heidegger (1889–1976) auszudrücken pflegte. Und die Schlachtfelder der Weltkriege schienen ihm recht zu geben.

Und was tun wir nun mit all dem? Der Versuch eines (sehr subjektiven) Fazits

Irren ist menschlich. Dieser Satz ist immerhin so alt, dass ihn ein Römer niedergeschrieben hat. Allerdings mit dem Zusatz: «Aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch.» Und auch der gescheite italienische Autor Umberto Eco (1932–2016) meinte:

«Die erste Pflicht des gebildeten Menschen ist es, jederzeit bereit zu sein, die Enzyklopädie des Wissens umzuschreiben.»
Umberto Eco

Der Irrtum, die Illusion, das Lügen und Verstellen, das alles ist unserer Existenz, folgen wir noch ein letztes Mal Nietzsches Gedanken (vgl. Teil 1), ursprünglich. Ganz im Gegensatz zu dieser Erfindung namens Wahrheit, der der Mensch so gerne hinterherjagt. Aber auch wenn Nietzsche selbst niemals in Verlegenheit kam, sich im Nihilismus zu erschöpfen, so kann eine vollständige Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffes dennoch in diesen führen. Nur was ist mit diesem Nichts anzufangen? Ist es mehr als ein bequemes, pessimistisches Kapitulieren, das zynische Lachen eines alten Mannes über den ganzen menschlichen Affentanz?

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Wir alle glauben an etwas. Und niemand von uns hat sich aus sich selbst heraus erschaffen. Jeder ist zu grossen Teilen geformt worden von seiner Mutter, seiner Umwelt, seiner Ausbildung, seinen Freunden, seinem Beruf. Und natürlich soll man an der Objektivität und Universalgültigkeit von Werten, von Wahrheiten, ja überhaupt von DER Realität zweifeln, nur ist dieses Zweifeln an sich noch kein besonders fruchtbarer Denkakt. Verneinen kann jeder. Die Frage ist, was man aus einer von Menschen zu allen möglichen Zwecken eingefärbten Welt ziehen kann für die eigene Erkenntnis.

Um einen pragmatischen Umgang mit der Welt und ihren Deutungsangeboten bemühte sich die politische Theoretikerin Hanna Arendt (1906–1975). Ihr furchtloses Denken hatte stets nur ein Ziel: verstehen. Verstehen, warum so etwas wie der Holocaust geschehen konnte. Warum die Nation, in die sie hineingeboren wurde, ihr und allen Juden durch die Beschwörung einer völkischen Wahrheit die Vernichtung bringen wollte. Wie eine Generation von «Schreibtischtätern», brav ausführenden Befehlsempfängern, jene ungeheuerliche Menschheitskatastrophe ermöglichte.

Deshalb fordert sie von den Leuten wirkliches, selbstständiges Nachdenken. Eine sichere Wahrheit gibt es nicht, doch die wahrhaftige Suche nach ihr verlangt Hannah Arendt von jedem freien Bürger. Die Bemühung um die richtige Einsicht in Tatsachen. Denn diese können nicht einfach aufgrund ihrer schwierigen Beweislage als illusionär verworfen werden.

Denn was bleibt uns auch anderes übrig? Wir können am Ende nicht ausbrechen aus unserem Denksystem. Wir haben uns zum Zwecke einer Gemeinschaft auf gewisse Prinzipien geeinigt. Und die allererste war die Sprache. Zwangsläufig endet man beim Nachdenken über Lüge und Wahrheit immer bei der Sprache. Mit ihr beginnt alles Menschliche. Deshalb gerät sie auch in der Postmoderne wieder in den Mittelpunkt der Überlegungen.

Der Poststrukturalismus hat die Sprache abermals zum Ort der Realitätsproduktion erklärt. In ihr wird die Gesellschaft, das Wissen und die Kultur geformt und vor allem hierarchisiert. Sie bildet nicht einfach die Realität ab, sie schafft sie auch. Wer schreibt, bestimmt auch immer, wer oder was auf welche Weise sichtbar ist – und wer überhaupt ein eigenes Wort bekommt.

Sehr verkürzt gesagt: Sprache ist Macht. Gerade in der heutigen Zeit, wo wir von «Informationen» täglich regelrecht überflutet werden, ist sprachliche Kompetenz wichtiger denn je. Heute reicht es nicht mehr, einfach nur lesen zu können. Man muss auch zwischen den Zeilen zuhause sein. Der Mensch des 21. Jahrhunderts lebt auf der Metaebene.

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Es ist das Zeitalter der Interpretationsfreudigen und Abstraktionsliebhaberinnen. Aber ebenso das Zeitalter der kompletten Verwirrung, der Orientierungslosigkeit und der masslosen Überforderung. Viele haben angesichts der Komplexität der Welt aufgehört, wahrhaftig nachzudenken. Vielleicht hat man auch einfach keine Zeit mehr dafür.

Eine Meinung hat hingegen jeder. Als guter Demokrat selbstredend zu allen Themen, die die Öffentlichkeit bewegen. Und auch gerne ohne die leiseste Ahnung davon zu haben. Da tut sich dann eine unüberwindbare Kluft auf zwischen Wissen – sprich der wahrhaftigen Bemühung um die richtige Einsicht in Tatsachen – und dem schlichten Nachplappern von etwas Gehörtem, dem Behaupten oder dem «Bullshiten», wie es der US-amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt (geb. 1929) bezeichnet.

Bullshiten hält Frankfurt denn auch für noch gefährlicher als lügen. Denn während der Lügner sich zwangsläufig mit der Wahrheit beschäftige, sei es auch nur, um diese zu verschleiern, beachtet sie der Bullshiter überhaupt nicht. Er verkennt die Existenz von Tatsachen, die in irgendeiner Weise erfasst und erkannt werden können. «Aus diesem Grunde», so schreibt Frankfurt in seinem feinen Büchlein «On Bullshit» (1985), «ist Bullshit ein grösserer Feind der Wahrheit als die Lüge.»

Der Lüge bezichtigt werden heute besonders gern «die Medien». «Lügenpresse» und «Fake News» sind die Schlagworte, die dieser Glaubwürdigkeitskrise in postmodernen Demokratien Ausdruck verleihen. Lügen tut – so wie es Augustinus (vgl. Teil 1) einst definierte –, wer «etwas anderes, als was er im Herzen trägt», ausdrückt. Wer also etwas, woran er nicht glaubt, für die Wahrheit ausgibt. Ein Journalist nun lügt wohl in den wenigsten Fällen – er will niemanden absichtlich täuschen – was er aber sicherlich mit zuverlässiger Wiederholung tut, ist sich zu irren. Warum soll er oder sie auch mehr im Besitze der Wahrheit sein als andere?

Journalisten erzählen im Grunde nur Dritten Dinge, die sie von anderen gehört haben. Sie liefern Perspektiven und Lesarten, indem sie ein Thema auswählen, es arrangieren, Daten und Meinungen interpretieren, Hypothesen und Vermutungen anstellen.

Deshalb kann eine Berichterstattung auch niemals ganz objektiv sein. Auch wenn sie gern mit Wahrheitssignalen wie «der zuverlässigen Quelle» etc. auffährt. Die Quellen werden sogar umso mehr beschworen, je weniger zuverlässig sie sind, was sich besonders gut in Spalten von Klatschblättern beobachten lässt.

Als Leser muss man also nicht nur den Inhalt eines Textes lesen, man muss ebenso seine Färbung erkennen. Wer schreibt da? Warum schreibt er das? Will er mich informieren oder bekehren? Predigt er oder klärt er auf? Liefert er Argumente oder Emotionen? Weiss er wirklich Bescheid oder bullshitet er bloss?

Am schlimmsten sind wahrscheinlich nicht die Irrtümer, solange sie auf einer wahrhaftigen Wahrheitssuche gründen. Es sind die Behauptungen, die ohne jede Bemühung um die richtige Einsicht in Tatsachen in die Welt hinausposaunt werden. Noch schädlicher wird es nur, wenn der Behaupter fest glaubt, im Besitze der Wahrheit zu sein, nicht weil er nach ihr geforscht hat, sondern weil er denkt, er sei moralisch im Recht. Und als solcher ruft er dann zu Boykotten des «Bösen» auf, fordert immer neue Verbote und verlangt nach religiös anmutenden Reinlichkeitszumutungen.

Dabei zeigt uns die Geschichte doch immer wieder, wohin geistige Bevormundung führen kann. Die einzige Formel, sich nicht stets in neue Ideologien zu verrennen, scheint noch immer die, welche Kant vor 235 Jahren aufschrieb.

«Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!»
Immanuel Kant, «Was ist Aufklärung?» (1784)

Zeit, dass wir sie mal anwenden.

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Die für die beiden Artikel verwendete Sekundärliteratur
Steffen Dietzsch – Kleine Kulturgeschichte der Lüge.
Maria Bettetini – Eine kleine Geschichte der Lüge: Von Odysseus bis Pinocchio.

Hier geht's zum ersten Teil:

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10 Kommentare
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Chabiszüüg
02.06.2019 14:18registriert Juli 2016
Watson täten mehr Autorinnen bzw. Autoren wie Anna Rothenfluh gut.

Ihr - nur noch selten erlebbares - tolles Sprachgefühl, ihre spannenden Themen, eigene Recherchen mit breit abgestütztem Einbeziehen von Quellen, ihr großes Allgemeinwissen und ihre Präferenz für Sachlichkeit statt Ideologie heben sich von fast allen gegenwärtigen journalistischen Ergüssen ab und lassen einem all ihre Artikel wahrlich genießen.

Auch bei der Titelwahl:
Zusammenfassung statt Clickbait.

Schon einmal über einen Einstieg ins Feuilleton der FAZ nachgedacht?
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reamiado
02.06.2019 15:18registriert Februar 2015
Wow, nicht leicht zu lesender und vielseitiger Text mit tiefen Gedanken und viel Wissen – das beste aber sind die Bilder! Irgendwie schräg, lustig und passend zugleich (:
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