In diesen Tagen begehen die Zeugen Jehovas ihr wichtigstes Fest. Nicht etwa Ostern, wie die Christen, sondern den Tod und den Leidensweg von Jesus. Denken Sie in diesen Tagen zurück?
S.T.*: Wenn Sie mich darauf ansprechen schon. Dann fröstelt es mich. Das war total furchteinflössend und traurig für mich als Kind. Das höchste Fest ist ein qualvoller Tod. Das ist doch völlig verrückt, nicht? Aber die Zeugen Jehovas leben für den Tod. Harmagedon, das Ende der Welt, steht ja ständig kurz bevor. Ich lebte nur, um Harmagedon zu überleben und ins Paradies zu kommen. Alle anderen Feste der Christen wurden als Heiden-Feste abgelehnt. Heute feiere ich alles so intensiv wie nur möglich. Ich glaube, es ist ein Ausdruck meines Protests gegen die Zeugen Jehovas.
Sie protestieren immer noch? Ihr Austritt ist 20 Jahre her.
Ja, stellen Sie sich das mal vor: Ich habe praktisch nochmals ein halbes Leben gebraucht, um die Kraft zu finden, wirklich gegen die Zeugen Jehovas zu protestieren. Ein Interview wie dieses hätte ich vor fünf Jahren noch nicht geben können.
Fühlen Sie sich betrogen?
Ja, absolut. Ich finde, die Zeugen Jehovas sollten dafür bestraft werden, mir mein Leben gestohlen zu haben. Ich wurde Opfer von schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Mir wurden meine Rechte verwehrt, auf Selbstbestimmung, auf Freiheit, auf Bildung und auf Information ...
Können Sie das genauer erklären?
Ich bin aufgewachsen in einer Welt, in der alles schwarz-weiss war. Alles und jeder ausserhalb dieser Gemeinschaft war weltlich, heidnisch und bedeutete Gefahr. Ich durfte kaum Zeit mit Menschen aus der anderen Welt verbringen – das waren ja praktisch wandelnde Tote, etwas aus der anderen Welt zu lesen oder zu hören, galt als schlecht. Alle Zeit musste ich Jehova widmen. In diesem Leben nach irgendetwas anderem zu streben, sich auszubilden, sich selbst zu verwirklichen, war völlig hinfällig, denn bald würde diese Welt enden.
Sie haben also keinen Beruf gelernt?
Alle meine Vorschläge wurden im Keim erstickt. Irgendetwas daran sprach immer dagegen. Ich hatte keine Chance. Das ist ja das Tragische: Wer es schafft, den Zeugen Jehovas zu entkommen, landet entweder in der Sucht, beim Sozialamt oder auf dem Friedhof.
Wo sind Sie gelandet?
Ich bin auf dem Sozialamt gelandet. Suizide und Suizidversuche sind im Kreise der Zeugen Jehovas weit verbreitet. Mein Vater wurde zweimal von einer Zeugin Jehovas bei den Ältesten verraten – er hatte ein Alkoholproblem. Beim ersten Mal wurde er ausgeschlossen, bereute aber und wurde wieder aufgenommen. Den zweiten Ausschluss hat er nicht verkraftet. Er hat sich umgebracht. Ein Ausschluss ist das Schlimmste, was einem Zeugen passieren kann.
Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie?
Nein.
Was ist die stärkste Erinnerung an Ihre Kindheit?
Das Gefühl falsch zu sein. Meine Zweifel an dieser Gemeinschaft haben früh begonnen. Mitunter weil ich auch körperliche Gewalt gesehen und erlebt habe. Dennoch habe ich versucht, eine gute Zeugin Jehovas zu sein und möglichst keine Fehler zu machen – was ja ein Ding der Unmöglichkeit war. Ich war sehr unglücklich und sehr einsam.
Wieso mussten Sie dann 25 Jahren alt werden, um definitiv auszutreten?
Ich musste genug Kraft sammeln, um bereit zu sein, den Preis zu bezahlen. Und ich musste mir 100 Prozent sicher sein. Als Kind habe ich eine Überlebensstrategie entwickelt. Heute weiss ich, dass sie Dissoziation heisst und bei Traumaopfern bekannt ist: Ich habe mich komplett von der Alltagswelt abgeschottet, bin wie erstarrt und habe aufgehört zu sprechen. Ich habe nur auf Fragen geantwortet.
Gab es einen Auslöser für Ihren Austritt?
Das war mit 21. Ich sass in einer Versammlung und hörte einem Ältesten bei einer Ansprache zu. Da schoss es mir durch den Kopf: «Du lügst! Du lügst doch!» Da wusste ich, dass ich raus musste, und zwar möglichst schnell. Ich brauchte einen Plan.
Wie lautete der Plan?
Wenn man austreten will oder von der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, kommt man vor die Ältesten. Ich habe das einmal erlebt und mich gefühlt wie vor einem Gericht. Ich wusste, dass ich das nicht durchhalten würde, weil ich nicht sprechen konnte. Also habe ich mir ein Datum gesetzt, an dem ich das erste Mal nicht zur Versammlung und dann nie mehr hingehen würde. Ich trat in den Ausstand. Das heisst bei den Zeugen Jehovas «untätig». Das ist möglich. Erst vier Jahre später bin ich dann definitiv ausgetreten. Ich habe schriftlich gekündigt.
Wie ging Ihr Leben weiter?
Zuerst bin ich in die Wüste abgehauen. Danach folgten sehr viele, sehr orientierungslose Jahre. Erst in den letzten paar Jahren ist Ruhe in mein Leben eingekehrt.
Was tun sie jetzt?
Ich gebe meinen zwei Töchtern Liebe. Ich gebe ihnen all die Liebe, die ich nie erfahren habe. Ich gebe ihnen Wurzeln und Flügel – das geht nur mit Liebe. Das ist mir das Wichtigste. Und am liebsten würde ich den Tag erleben, an dem die Zeugen Jehovas büssen müssen.
* Name der Redaktion bekannt