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Interview

SRK-Mann Thalmann im Libanon: «Grundsätzlich gibt es immer zu wenig Hilfe»

Martin Thalmann, Delegierter des SRK im Libanon
Martin Thalmann, in einer vom SRK bedienten Zeltstadt im Libanon. bild: jonas bischoff
Interview

SRK-Mann Thalmann im Libanon: «Grundsätzlich gibt es immer zu wenig Hilfe»

Martin Thalmann koordiniert die Aktivitäten des Schweizerischen Roten Kreuzes im Libanon. Das neuste Projekt heisst «Cashcard» – monatlich 175 Dollar, ein Jahr lang, für 500 Familien. Ein Gespräch über trinkende Väter, Selbstbestimmtheit und Spannungen mit den Libanesen. 
30.11.2015, 10:5903.01.2017, 16:07
Rafaela Roth
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watson sammelt Geld für das neue Cashcard-Projekt des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK). Macht es Sinn, Flüchtlinge mit Bargeld zu versorgen? 
Martin Thalmann: Das Cashcard-Projekt ist eine Weiterentwicklung unserer Hilfeleistung. Bisher haben wir in Flüchtlingscamps vor allem Nahrungspakete verteilt, jetzt wollen wir mit Bargeld-Unterstützung helfen. Diese Art von Hilfe hat den grossen Vorteil, dass die Familien selber entscheiden können, welche Prioritäten sie setzen und was sie am dringendsten brauchen. Sie erhalten auch einen Teil ihrer materiellen Selbstbestimmung zurück.

Woran fehlt es den Flüchtlingsfamilien im Libanon am meisten?
Die Familien leben in prekären Verhältnissen. Sie sind mit ganz unterschiedlichen Problemen konfrontiert. Die einen haben kein Geld für die Miete, andere, um ihr Kind zum Arzt zu bringen, wieder andere brauchen Medikamente. Irgendwann will man auch mal etwas anderes essen als die Pasta aus unserem Nahrungspaket. 

libanon, rafaela roth
In diesem Camp hilft das SRK mit Nahrungspaketen.Bild: watson/rafaela roth
SRK im Libanon
Martin Thalmann ist seit zwei Jahren Delegierter des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) im Libanon. Von Beirut aus koordiniert er die Hilfen in den Flüchtlingslagern. 
​Das SRK legt mehrere Schwerpunkte im Libanon. Es verteilt Nahrungsmittel an die Bedürftigsten, unterstützt die Ausstattung eines Gesundheitszentrums des Syrischen Roten Halbmonds, betreibt einen Ambulanzdienst im Grossraum Beirut sowie Katastrophenhilfe. 
Im neuen Projekt Cashcard sollen ab dem neuen Jahr 500 Familien in extremer Armut eine Karte erhalten, von der sie monatlich ein Jahr lang 175 Dollar abheben können. ​(rar)

Was tun Sie, um zu verhindern, dass der Vater das Geld in die Bar trägt?
Diese Gefahr besteht. Allerdings ist die syrische Gesellschaft eine muslimische und damit keine trinkende Gesellschaft. Alkoholmissbrauch ist kein grosses Problem. Hinzu kommt, dass diese Familien wirklich weit unter der Armutsgrenze leben. Die meisten wollen das, was ihnen bleibt, in ihre Kinder investieren.

Andere Kontrollen gibt es nicht?
Wir sind natürlich in den Camps präsent. Wir arbeiten mit dem Libanesischen Roten Kreuz zusammen. Die Kollegen leben in derselben Region wie die Flüchtlinge und haben engen Kontakt zu ihnen. 

Wie werden die Familien ausgewählt, die eine Cashcard erhalten?
Die Familien werden durch das Libanesische Rote Kreuz ausgewählt, das in sehr vielen Gemeinden präsent ist. Bei Zeltbesuchen werden die Ärmsten der Armen ermittelt. Bevorzugt werden Familien mit vielen Mitgliedern und die nicht in einer Wohnung, sondern in einem Zelt leben, in denen behinderte Kinder oder ältere Menschen leben oder Mütter, die mit ihren Kindern alleine sind. 

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Warum gerade 175 Dollar? ​Libanon ist ein teures Land. Das reicht nirgends hin. 
Dieser Betrag ist mit den anderen im Gebiet aktiven Hilfsorganisationen abgesprochen. Wir können nicht viel mehr geben als eine andere. 175 Dollar reichen nicht, um alle Probleme zu lösen, aber es ist genug, um einen Unterschied zu machen. Sparen ist damit unmöglich. 

Wie verhindern Sie, dass Familien von mehreren NGOs gleichzeitig profitieren?
Dafür sprechen wir uns ab. Gebiete und Art der Hilfe sind aufgeteilt. Dafür gibt je nach Gebiet wöchentliche oder zweiwöchentliche Sitzungen. Grundsätzlich gibt es immer zu wenig Hilfe. Deswegen gilt es auch, die Bedürftigsten zu ermitteln und zu entscheiden, wo man zuerst helfen muss.

Martin Thalmann bei einer Nahrungsmittel-Verteilungsaktion im Bekaa-Tal.  
Martin Thalmann bei einer Nahrungsmittel-Verteilungsaktion im Bekaa-Tal.  Bild: Jonas bischoff

Was sind die speziellen Herausforderungen für Ihre Arbeit im Libanon? 
​Es ist vor allem eine logistische Herausforderung. Im Libanon gibt es nicht etwa wie in Jordanien grosse Lager mit hunderttausenden Menschen, die man gezielt erreichen und einfach bedienen kann. Hier gibt es über 1900 improvisierte Zeltlager. Es ist schwierig, die Menschen zu erreichen. 

Warum gibt es im Libanon keine offiziellen Lager? 
Das Land hat schon Erfahrung mit Flüchtlingen. ​Hier leben viele Palästinenser, die teilweise schon seit 1948 hier sind, als sie aus Palästina vertrieben wurden. Sie leben in Camps in Beirut, wo sie zum Teil geboren wurden. Die libanesische Polizei hat die Kontrolle über diese Camps weitgehend verloren. Aus diesem Grund wollten die Libanesen keine Camps mehr.

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Im Libanon ist jeder vierte Einwohner Flüchtling. Eine wahnsinnige Zahl. 
Ja, das ist sie. Auf die Schweiz übertragen, wären das 2,5 Millionen Flüchtlinge innerhalb von vier Jahren. Das ist schwer vorstellbar.

Seit diesem Jahr sind die Grenzen dicht, sind die Flüchtlingszahlen zurückgegangen? 
​Ja, das konnte man feststellen. Im letzten Jahr zählte die UNHCR 1,2 Millionen registrierte Flüchtlinge, jetzt sind es 1,15 Millionen – es gibt natürlich eine hohe Dunkelziffer. Aber es kommen weniger rein, gewisse reisen weiter und ganz wenige gehen zurück nach Syrien.

Anstehen für Nahrung.
Anstehen für Nahrung.bild: jonas bischoff

Libanon galt lange als sehr gastfreundlich gegenüber den Syrern. Ist das immer noch so? 
​Am Anfang waren die Libanesen tatsächlich sehr gastfreundlich. Familien haben andere Familien aufgenommen, die Syrer kamen bei Bauern unter und wurden bekocht. Nach den ersten zwei, drei Monaten wurde klar, dass der Syrien-Konflikt länger dauert, dann kamen die Spannungen. 

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Erleben die Flüchtlinge Aggressionen? 
In der Stadt Beirut würde ich nicht von offenen Aggressionen sprechen. Wenn man aber aufs Land geht, in Dörfer, in denen mittlerweile mehr Flüchtlinge als Libanesen leben, spürt man den Missmut. Die Flüchtlinge prägen das Dorfbild.

Wie stark beeinflussen die Syrer den Arbeitsmarkt?
Sehr stark. Die libanesischen Arbeiter spüren natürlich den Druck der Syrer, die auf den Arbeitsmarkt drängen und bereit sind, zu viel tieferen Löhnen zu arbeiten. Libanon erlebt einen Bauboom wegen der Flüchtlinge. Weil die Syrer zu so tiefen Löhnen arbeiten, ist das Bauen billiger geworden. Die Löhne sind auch für Libanesen dementsprechend gesunken.

Wie gross ist das Risiko, dass der Krieg auf den Libanon überschwappt?
Im Sommer war diese Gefahr realer, als es an der nord-östlichen Grenze zum Teil heftige Gefechte zwischen «IS» und der libanesischen Armee gab. Die Lage hat sich aber beruhigt und die libanesische Armee erhielt internationale Hilfe, wie Waffenlieferungen und Wachttürme. Libanon bleibt aber quasi vom Krieg eingerahmt. 

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