Das passiert nicht oft in der so sprunghaft wie News-getriebenen Pendlerzeitung «20 Minuten». Doch die Ergebnisse einer neuen Jugend-Umfrage waren einfach zu verlockend, die Schlagzeilen zu knackig, um nicht eine mehrteilige Serie daraus zu machen.
Seit Tagen dominieren die Ansichten Schweizer Jugendlicher die meistgelesene Zeitung des Landes: «So extrem ticken 17-und 18-Jährige», «Jeder fünfte junge Muslim ist für die Scharia» oder «So verbreitet sind rechtsextreme Einstellungen» lauten die Überschriften. Doch ist die Schweizer Jugend tatsächlich so extrem geworden? Oder gilt frei nach dem französischen Schriftsteller Jean Cocteau: «Was bei der Jugend wie Grausamkeit aussieht, ist meistens Ehrlichkeit»?
Die nun veröffentlichten Ergebnisse sind bemerkenswert. Die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften hat 8317 Jugendliche im Alter von 17 bis 18 Jahren aus zehn Kantonen befragt. Sie stimmen zum Teil radikalen Aussagen zu.
Das geht von «Muslimen sollte die Zuwanderung in die Schweiz untersagt werden» (20 Prozent Befürworter) hin zu «Die Schweizer sind anderen Völkern von Natur aus überlegen» (19 Prozent) und endet bei «Ich finde es in Ordnung, wenn Ausländer in der Schweiz zusammengeschlagen werden, weil sie Ausländer sind» (5 Prozent).
Die Forscher kommen deshalb zum Schluss, dass 25 Prozent der einst als so idealistisch geltenden Jugendlichen ausländerfeindlich geworden sind. Nur: Stimmt das wirklich?
Der Zürcher Psychotherapeut Felix Hof hält die Schlussfolgerung der Studie für falsch. «Die Jugend ist nicht fremdenfeindlich», sagt er. Seit über 30 Jahren behandelt er auffällige Kinder und Jugendliche und war unter anderem als Chefpsychologe in der Rekrutierung für die Schweizer Armee tätig. Gerade in der dortigen Zufallsgemeinschaft habe er gesehen, wie junge Menschen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen zusammenstehen und Gemeinsamkeiten finden. Jede Aussage der Studie müsse einzeln betrachtet werden, bevor auf Ausländerhass geschlossen werden könne. «Die Jugend denkt heute differenziert», sagt er.
Dass 40 Prozent zustimmen, wenn es heisst, «Es leben zu viele Ausländer in der Schweiz» erstaunt Hof. Dabei gelte es zwischen Stadt und Land, der Herkunft und dem Bildungsgrad der Jugendlichen zu unterscheiden. Eine stark ablehnende Haltung würde oft mit eigenen Erlebnissen zusammenhängen. «Wer im Ausgang angepöbelt oder gar zusammengeschlagen wurde, stimmt der Aussage stärker zu.» Längst nicht in allen Fällen, aber unter den Tätern seien überproportional viele Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Dass die Aufmerksamkeit an der Umfrage gross ist, liegt auch daran, dass Jugendstudien rar sind. Zu unterschiedlich sind die Biografien der der 16- bis 25-Jährigen. Einige sind mitten in der Ausbildung, andere längst im Berufsleben, weitere haben bereits eine Familie gegründet. In den Vergangenen Jahren hiess es oft, die Jungen seien bünzlig und unpolitisch geworden. Lieber ein Like auf Facebook, als eine Stimme an der Urne.
Sie sitzen zu Hause am Smartphone, statt auf der Strasse mit Plakaten zu marschieren. Dabei galt es immer als Teil des Erwachsenwerdens, anzuecken, zu provozieren und Extreme auszuloten. Doch nun zeichnet genau das die vermeintlich biedere Jugend von heute aus: 47 Prozent lehnen den Kapitalismus ab, 45 Prozent glauben, die Polizei würde sie auf Schritt und Tritt bespitzeln und 38 Prozent sind dafür, dass die Schweiz viel mehr Flüchtlinge aufnimmt.
Neu ist der Trend zum Nationalismus. Weg von einer weltoffenen, hin zu einer geschlossenen Gesellschaft: «Wenn die Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer zurückschicken» (26 Prozent). Die Zustimmung ist umso erstaunlicher, als dass fast alle Jugendlichen einen Job finden. Europa blickt neidisch auf die tiefe Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. Seit Jahren gibt es mehr Lehrstellen als Lehrlinge, ein Studium ist für fast jeden bezahlbar.
Pedro Lenz, Schriftsteller und Verfechter einer offenen Schweiz, sieht die Ursache in wachsenden Zukunftsängsten. «Jugendliche fragen sich, was wird einmal aus mir? Wo stehe ich in zehn Jahren?» Sie suchten nach Halt in einer für sie sinnentleerten Gesellschaft – und glaubten ihn im Nationalismus zu finden. «Jodler-Clubs feiern ein Revival, die Schwingfeste sind ausverkauft und die Geschäfte füllen ihr Sortiment mit Kuhtassen und Edelweisshemden», sagt Lenz. «Es ist die Sehnsucht nach einer Schweiz, die es nie gegeben hat.»
Und die Sehnsucht wirkt: Es wächst eine Gesellschaft der Abgrenzung, ein «Wir gegen die», ein «Sie gegen uns». Der Trend ist weltweit zu beobachten. Längst hat die Politik umgeschwenkt. Statt über die boomende US-Wirtschaft zu sprechen («Das ist langweilig»), machte US-Präsident Trump eine Tausende Kilometer entfernte Flüchtlings-Karawane zum Eckpunkt seines Wahlkampfs («Wir stehen vor einer Invasion, Leute»).
Galt knapp drei Jahrzehnte die goldene Regel «It’s the economy, stupid!», stehen nun andere Sorgen im Mittelpunkt. Heute müsste es heissen: «Es ist die Identität, Dummkopf!» Die Jugend lechzt nach Orientierung. Manche finden sie im Patriotismus und in den Edelweisshemden, andere bei den Ultras in den Fussballclubs.
Es ist die Suche nach Identität, die auch junge Muslime antreibt. Manchmal bis ins Extreme. Laut Studie wünscht sich jeder fünfte junge Muslim in der Schweiz die Scharia, das islamische Recht. Für 26 Prozent haben Frauen hierzulande zu viele Freiheiten. Und gar 42.6 Prozent finden, in westlichen Ländern gebe es keine Moral mehr. Wie kommen solche Aussagen in einer integrativen Gesellschaft zustande?
Jugendpsychologe Allan Guggenbühl erlebt an den Schulen, wie selbst gut integrierte Muslime beim Thema Religion plötzlich erzkonservative Ansichten vertreten. «Das passt manchmal überhaupt nicht zusammen», sagt er. Wichtig sei, offen über die Wertvorstellungen zu sprechen. Zwar stellt Guggenbühl ebenfalls radikale Tendenzen fest, allerdings würden sie nur eine Minderheit der Jungen betreffen. Der Psychologe glaubt vielmehr, dass Toleranz gegenüber Andersdenkenden zunehmen wird. «Jugendliche sind heute öfter mit anderen Kulturen konfrontiert.» Das stimme ihn zuversichtlich.
Schriftsteller Pedro Lenz fordert ein Umdenken, einen Aufbruch: «Wir müssen wieder mutig sein und daran glauben, dass wir Menschen von den Werten unserer Gesellschaft überzeugen können», sagt er. So liessen sich radikale Tendenzen eindämmen. Das gelte für alle – egal ob Jung oder Alt.