In der sommerlichen Nachrichtenflaute lässt die SRF-Sendung «Schweiz aktuell» die Historie aufleben. Man kehrt in eine mehr oder weniger ferne Vergangenheit zurück, häufig in Form von Reenactments mit Zuschauerinnen und Zuschauern. Von diesen Sommerspecials dürfte keines stärker in Erinnerung geblieben sein als jenes von 2004 aus dem hintersten Emmental.
Das Fernsehvolk ergötzte sich daran, wie eine heutige Familie sich unter dem Motto «Leben wie zu Gotthelfs Zeiten» auf dem Hof Sahlenweidli mit der harten kleinbäuerlichen Existenz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abmühte. Die Resonanz auf dieses Bauern-Experiment war derart gross, dass das SRF im folgenden Winter eine zweite Staffel der Doku-Soap drehte.
Andere History-Specials sind längst in Vergessenheit geraten (wer erinnert sich an das Leben als Pfahlbauer oder Fabrikarbeiter?). Die Faszination für das bäuerliche Leben zur Zeit des Pfarrers und Schriftstellers Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf (1797–1854) aber scheint 14 Jahre danach ungebrochen zu sein. Das Sahlenweidli jedenfalls kann nach wie vor gemietet werden.
Woran liegt das? Niemand will allen Ernstes wie damals leben. Die bäuerliche Existenz war im 19. Jahrhundert kein Honigschlecken – man muss nur Gotthelf lesen. Und doch scheint in der zersiedelten Agglo-Schweiz eine Sehnsucht nach dem vermeintlich unverfälschten Landleben zu existieren. Umfragen zeigen, dass die Schweizer am liebsten im Dorf wohnen würden.
Die Werbung befeuert dieses Ideal nach Kräften. Geht es um landwirtschaftliche Produkte, greift man gerne zu Bildern von glücklichen Tieren auf pittoresken Kleinbauernhöfen. Produzenten und Grossverteiler sind gleichermassen an solchen Trugbildern beteiligt. Und ein Ende ist nicht in Sicht: Die Detailhändler verpassen ihren Läden zunehmend einen Touch von Bauernmarkt.
Die Realität sieht anders aus. Das Leben eines Huhns ist längst nicht so lustig wie jenes von Chocolate aus der einstigen Migros-Werbung. Selbst die «Freilandhaltung» findet überwiegend in riesigen Legehallen mit bis zu 18'000 Hennen statt. Oft erhalten sie kaum den gesetzlich vorgeschriebenen Auslauf. Gleiches gilt für Kühe und Schweine, auch sie leben meistens im Stall.
Viele Leute wissen um die Diskrepanz zwischen Werbung und Realität, blenden sie aber aus. Häufig zählt am Ende doch der Preis. Das gilt besonders in der Gastronomie, in der ein gnadenloser Konkurrenzkampf herrscht. Der Absatz von Bioprodukten nimmt Jahr für Jahr zu, aber selbst bei Eiern und Gemüse beträgt der Anteil nur rund ein Viertel.
Politisch allerdings wird die Vorstellung eines vermeintlich unverfälschten, naturnahen Bauernlebens kräftig bewirtschaftet. Drei Volksinitiativen kommen in diesem Herbst zur Abstimmung, die mehr oder weniger ungeniert an solche Instinkte appellieren: Fair Food und Ernährungssouveränität am 23. September sowie die Hornkuh-Initiative am 25. November.
Letztere ist ein besonders schönes Beispiel. Oder kann sich jemand an eine Werbung mit hornlosen Kühen erinnern? Lovely aus der Milchwerbung jedenfalls ist eine prächtig behornte Kuh. Wer weiss schon, dass der Verband der Milchproduzenten seinen Mitgliedern das Enthornen empfiehlt, damit sich die Kühe in den engen Ställen nicht gegenseitig verletzen?
Tierschützer kritisieren, dass bei rund 90 Prozent der Schweizer Kühe die Hörner entfernt wurden – ein krasser Kontrast zur Werbung. Man kann dem Bergbauern und Hornkuh-Initianten Armin Capaul deshalb ein gutes Gespür attestieren. Allerdings will er das Enthornen nicht verbieten, sondern eine Prämie zahlen für Bauern, die darauf verzichten. Und damit eine weitere Geldquelle für die ohnehin bereits hoch subventionierte Schweizer Landwirtschaft erschliessen.
Einen anderen Weg geht die Fair-Food-Initiative der Grünen Partei. Sie will die Schweiz mit einem neuen Verfassungsartikel quasi zum Bioland machen, auch wenn das nicht so direkt formuliert ist. Man wolle «Lebensmittel aus einer naturnahen, umwelt- und tierfreundlichen Landwirtschaft mit fairen Arbeitsbedingungen fördern», halten die Initianten auf ihrer Website fest.
Mit Slogans wie «Tierwohl statt Tierfabriken» richtet man sich an das Gewissen des Stimmvolks. Die Initiative hat gute Ansätze, etwa im Kampf gegen Foodwaste. Aber die Grünen riskieren, dass Lebensmittel teurer und preissensitive Konsumenten zum Einkaufstourismus verleitet werden. Auch drohen potenzielle Konflikte mit internationalen Handelsabkommen.
Einen nostalgischen bis rückwärtsgewandten Touch hat aber vor allem die Initiative «für Ernährungssouveränität» der Bauerngewerkschaft Uniterre. Sie lässt den Geist der Landesausstellung Landi 1939 in Zürich aufleben. «Jeder vierte Schweizer ist Bauer», hiess es damals stolz. Heute sind es noch rund drei Prozent, eindeutig zu wenig für Uniterre.
Der Bund solle «die Erhöhung der Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen und die Strukturvielfalt» fördern, heisst es im Initiativtext. In der heutigen Zeit hört sich das wie grober Unfug an, aber die Gewerkschafter meinen es ernst. «Wir wollen mehr Bäuerinnen und Bauern und nicht weniger», sagte Uniterre-Vizepräsidentin Ulrike Minkner der Zeitung «Schweizer Bauer». Der Strukturwandel soll nicht nur gestoppt, sondern so weit möglich rückgängig gemacht werden.
Fragt sich nur, was eine «Verballenbergisierung» der Landwirtschaft (O-Ton FDP-Präsidentin Petra Gössi während der Debatte im Nationalrat) zur Ernährungssouveränität beitragen soll. Die Schweiz muss rund die Hälfte ihres Lebensmittelbedarfs importieren, und das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Sogar während der «Anbauschlacht» im Zweiten Weltkrieg blieb sie vom Ausland abhängig.
Die Initiative dürfte deshalb einen schweren Stand haben, auch wenn Uniterre im Abstimmungskampf das vermeintlich populäre Gentech-Verbot ins Zentrum rücken dürfte. Der Versuch der Gewerkschafter, die Agrarpolitik 2014–2017 des Bundes vor fünf Jahren per Referendum zu stoppen, scheiterte jedoch bereits im Stadium der Unterschriftensammlung.
Schwierig dürfte es auch für die beiden anderen Initiativen werden, obwohl der Bauernverband sie nicht bekämpfen wird und der neue Verfassungsartikel für Ernährungssicherheit im letzten Herbst klar angenommen wurde. Das Gotthelf-Idyll mag auf viele Menschen faszinierend wirken. Ihnen ist aber auch bewusst, dass es für die Landwirtschaft im 21. Jahrhundert nicht mehr taugt.