Spätestens seit dem Brexit sind die Schwanengesänge auf die EU alltäglich geworden. Die Euro-Krise sei nicht lösbar, der Vormarsch der Rechtspopulisten nicht zu stoppen und die komplexen Strukturen nicht zu reformieren, tönt es von rechts und links. Es gehe derzeit eigentlich nur noch darum, wer in Brüssel als Letzter das Licht löschen werde.
Tatsächlich steckt die EU in der schlimmsten Krise ihrer Existenz, und es ist denkbar geworden, dass sie zerbricht. Bei einem Wahlsieg von Marine Le Pen beispielsweise, oder wenn die nach wie vor ungelöste Griechenlandkrise ausser Kontrolle geraten sollte. Dazu kommen ein wachsender Unmut gegen die Globalisierung und Angst vor Flüchtlingsströmen in weiten Teilen der Bevölkerung.
In der aktuellen Politik geht alles jedoch sehr schnell; und in den letzten Tagen hat sich die Lage in Europa verändert, vor allem in Frankreich. Bisher galt es als gesetzt, dass der erzkonservative François Fillon und die Nationalistin Le Pen das Rennen um die Präsidentschaft unter sich ausmachen werden. Nun ist plötzlich Emmanuel Macron der neue Kronfavorit. Fillon hat sich mit dubiosen Staatssubventionen an seine Frau selbst aus dem Rennen genommen. Le Pen gilt nach wie vor als unwählbar.
Macron ist ein neues Phänomen in der französischen Politik. Er ist weder links noch rechts, sondern Anhänger eines dritten Weges. Bisher galt dies in Paris als politischer Selbstmord, doch in der aktuellen Konstellation könnte es sich als Erfolgsrezept herausstellen. Die Sozialisten haben mit Benoît Hamon einen für bürgerliche Wähler inakzeptablen Kandidaten aufgestellt. Um Le Pen zu verhindern, müssen auch die Linken für Macron stimmen. Gleichzeitig kommt er beim bürgerlichen Publikum sehr gut an.
Der ehemalige Banker Macron ist ein erklärter Befürworter der EU, genau wie Martin Schulz in Deutschland. Diesen haben die Genossen als Spitzenkandidat für die Kanzlerwahlen auf den Schild gehoben, und seither hat die SPD erstmals seit einem gefühlten Jahrhundert die CDU in den Meinungsumfragen überholt. Dass Schulz Angela Merkel tatsächlich auch besiegen kann, ist alles andere als gewiss. Doch es ist zumindest eine Option geworden. Als ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments ist Schulz mit den Vorgängen in Brüssel bestens vertraut.
In Rom hat die neue Bürgermeisterin der Fünf-Sterne-Bewegung, Virginia Raggi, etwas geschafft, das als unmöglich galt: Sie hat das Chaos in der italienischen Hauptstadt nochmals verschärft. Seither sinken die Aktien der europafeindlichen Bewegung von Beppe Grillo rasch. Gleichzeitig steigt der Polit-Zombie Silvio Berlusconi einmal mehr aus seinem Grab, spaltet damit die Rechtspopulisten – und verhilft Matteo Renzi zu einem unverhofften Comeback.
Der ehemalige Ministerpräsident Italiens schien nach der vernichtenden Niederlage beim Referendum im letzten November geschlagen zu sein. Jetzt steht er in Meinungsumfragen wieder an erster Stelle und hat gute Chancen, bei Neuwahlen seine sozialdemokratische Partito Democratio wieder zum Sieg zu führen.
Macron, Schulz und Renzi am Drücker der drei wichtigsten EU-Staaten: Die Vorstellung ist nicht so abwegig. Sollte sie tatsächlich eintreffen, dann wären die Voraussetzungen für umfassende Reformen und einen Neustart der EU gegeben.
Als unfreiwilliger Geburtshelfer könnte sich dabei Donald Trump erweisen. Als erklärter EU-Gegner hat er den Europäern vor Augen geführt, dass sie sich nur gemeinsam gegen seine Willkür zur Wehr setzen können. Und er hat in noch viel grösserem Ausmass das Kunststück von Virginia Raggi in Rom wiederholt: Innert Wochen hat er Washington in ein totales Chaos gestürzt. Das bringt nun zumindest den intelligenteren Teil der EU-Kritiker ins Grübeln.