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«Die SVP hat nicht nur viel Geld, sie hat auch eine grosse intellektuelle Potenz»

Unverwüstlich: Jean Ziegler.
Unverwüstlich: Jean Ziegler.Bild: KEYSTONE

«Die SVP hat nicht nur viel Geld, sie hat auch eine grosse intellektuelle Potenz»

Jean Ziegler ist ein intellektueller Dinosaurier in der Schweiz. Unverdrossen kämpft er gegen Raubtier-Kapitalismus und eine kannibalische Weltordnung an. In seinem jüngsten Buch «Ändere die Welt!» erklärt er, warum er die Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft nicht verloren hat und warum es sich lohnt, weiterzukämpfen.
25.04.2015, 20:1704.05.2015, 11:57
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Herr Ziegler, Sie sprechen von der Verantwortung der Intellektuellen. Aber sind die heutigen Intellektuellen nicht von gestern?
Jean Ziegler: Nein, es braucht Intellektuelle heute dringender denn je. Wie Jean-Paul Sartre schon gesagt hat: Es gibt den materiellen Klassenkampf, aber auch den theoretischen. 

«Gott hat keine anderen Hände als die unseren.» 

Was ist ein theoretischer Klassenkampf?
Ein Kampf um die symbolischen Inhalte, um das Bewusstsein. Wir haben eine absurde Weltordnung, die ich neoliberalen Kannibalismus nenne. Warum lassen wir das zu? Warum akzeptieren wir, dass alle fünf Sekunden ein Kind verhungert? Weil unser Bewusstsein verschüttet ist, oder wie es Marx genannt hat: Weil unser Bewusstsein entfremdet ist.

Ist das nicht natürlich? Ist der Mensch nicht von Natur aus egoistisch?
Menschen haben die genetischen Voraussetzungen, um sich solidarisch zu verhalten. Ich leide, wenn ich ein hungerndes Kind sehe. Wir sind die einzigen Lebewesen, die sich im anderen wiedererkennen. Deshalb gilt, was Immanuel Kant gesagt hat: Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. 

Flüchtlinge auf dem Mittelmeer.
Flüchtlinge auf dem Mittelmeer.Bild: EPA dpa / Opielok Offshore Carri

Gerade die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer zeigt, dass es derzeit mit unserer Solidarität nicht sehr weit her ist. Weshalb?
Weil unser Identitätsbewusstsein verschüttet ist. Wir nehmen wirtschaftliche und politische Ereignisse hin wie Naturkatastrophen. Die neoliberale Wahnidee sagt: Der Markt reguliert sich selbst, der Mensch kann nichts dagegen unternehmen. Wir glauben an unsere eigene Ohnmacht. Dabei gilt: Es gibt keine Ohnmacht in einer Demokratie. Die Grundthese meines Buches lautet daher: Man muss an die Menschwerdung des Menschen glauben. 

Das fällt derzeit nicht leicht. Wir erleben, wie einmal mehr eine Elite von Superreichen entsteht.
Dabei hätten wir dank dem technischen Fortschritt zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit, allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Marx glaubte, dass der objektive Mangel die Menschheit noch über Jahrhunderte begleiten würde. Die industrielle und die technische Revolution haben den Mangel überwunden.

Seit Wochen auf der «Spiegel»-Bestseller-Liste: Das neue Buch von Jean Ziegler.
Seit Wochen auf der «Spiegel»-Bestseller-Liste: Das neue Buch von Jean Ziegler.

Zurück zu den Intellektuellen. Sie selbst sagen in Ihrem Buch: Die sozialistischen Intellektuellen haben den ideologischen Kampf verloren.
Ja, wir führen einen Sisyphos-Kampf, aber wir werden diesen Kampf schlussendlich gewinnen. Wie Che Guevara schon gesagt hat: Auch die stärksten Mauern fallen dank kleinen Rissen.

Na ja, zur Zeit sieht es nicht danach aus. In der Schweiz führen wir eine unsäglich doofe Debatte über Marignano und die Neutralität.
Ich habe eine grosse Bewunderung für die Marketingfritzen der SVP. Sie schaffen es, mit den absurdesten Themen für Aufmerksamkeit in den Medien zu sorgen. Jetzt haben sie gemerkt, dass es nicht reicht, immer nur gegen die EU zu wettern. Deshalb haben sie die Schlachtfeiern entdeckt. 

Offensichtlich mit Erfolg. 
Marignano hat absolut nichts mit der Schweizer Neutralität zu tun. Dieser Begriff taucht erst viel später im Westfälischen Frieden auf. Aber alle Medien, Radio, TV und Presse fallen auf den Trick der SVP herein und führen eine Debatte über eine vermeintlich «neutrale Schweiz» im 16. Jahrhundert. Dabei hat jeder Schweizer Kanton bis 1848 eine eigenständige Aussenpolitik geführt – und in Marignano haben sich die Berner, Freiburger und Solothurner von den Franzosen kaufen lassen und sind abgezogen. Aber ich gestehe: Man muss die Kunst dieser Volksverblödung zuerst einmal beherrschen. 

Ihre Ehrfurcht vor der SVP in Ehren: Aber ist das für Sie als Intellektuellen nicht einfach deprimierend?
Es zeigt, dass hierzulande die Entfremdung sehr weit fortgeschritten ist. Wir sind ja keine Schafsköpfe, sondern ein zivilisiertes Volk mit vier Kulturen – und wir handeln gegen unsere eigenen Interessen. 

«Warum akzeptieren wir, dass alle fünf Sekunden ein Kind verhungert?»

Vielleicht sind wir eben doch Schafsköpfe.
Nein, aber unsere Feinde sind unglaublich stark. Die SVP hat nicht nur viel Geld, sie hat auch eine grosse intellektuelle Potenz.

Ist das nicht ein bisschen zu viel der Ehre für Mörgeli & Co?
Um Gottes willen, die meine ich nicht. Ich spreche von den Marketing-Spezialisten, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Mörgeli & Co. sind nur die Papageien, die nachher im Schaufenster stehen und nachplappern. Aber nochmals: Wie die Marignano-Debatte lanciert wurde, war hohe Schule. Es ist der SVP gelungen, das Absurde vernünftig erscheinen zu lassen. 

Überraschenderweise kritisieren Sie in Ihrem Buch den Staat sehr heftig. Warum ist der Sozialist Ziegler plötzlich ein Staatsfeind? Ist das nicht die Rolle der Neoliberalen?
Der Staat ist schwindsüchtig geworden und steht heute total im Interesse der internationalen Konzerne.

Ist es nicht eher so, dass diese Konzerne den Staat gar nicht mehr brauchen?
Nein, sie diktieren dem Staat ihre Gesetze. 

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Meinen Sie TTIP zum Beispiel, ein neues Gesetz, das mehr Freihandel zwischen den USA und Europa bringen soll?
Ja, was dort abläuft, ist unglaublich. Die Europäische Kommission verhandelt seit 2013 – geheim wohlgemerkt – mit den USA mit dem Ziel, die grösste Freihandelszone der Welt zu schaffen. Sie versprechen uns mehr Wirtschaftswachstum. Das stimmt nicht. Es geht vielmehr darum, dass TTIP es den Konzernen möglich machen würde, alle Errungenschaften im Umwelt-, Gesundheits- und Sozialsektor wieder zu ignorieren. Die Demokratie und die Autonomie der Länder würden untergraben. Es wäre ein weiterer Schritt hin zur Weltherrschaft der Konzerne.

Proteste gegen den geplanten Freihandelsvertrag.
Proteste gegen den geplanten Freihandelsvertrag.Bild: EPA DPA

Übertreiben Sie jetzt nicht ein bisschen?
Nein, wenn TTIP angenommen wird, dann ist das Armageddon, die letzte Schlacht zwischen Gut und Bös'. Armageddon findet heute statt. Wenn die Konzerne gewinnen, dann werden die letzten Attribute des souveränen Nationalstaates liquidiert sein. 

Gerade deshalb sollte man den Staat ja stärken. Nur ein starker Staat kann die sozialen und ökologischen Errungenschaften verteidigen.
Der Staat ist dazu nicht mehr in der Lage, er ist überall auf dem Rückzug. In Spanien ist heute jedes zehnte Kind unterernährt. Ich kenne eine Lehrerin in Berlin, die mir sagt, dass zu ihr jeden Tag bleiche Kinder in die Schule kommen, die kein Frühstück erhalten haben. Das Gleiche gilt für Grossbritannien. Der Dschungel breitet sich aus, auch in Europa.

«Wenn TTIP angenommen wird, dann ist das Armageddon, die letzte Schlacht zwischen Gut und Bös'.» 

Wer, wenn nicht der Staat, soll dies verhindern?
Die Zivilgesellschaft. Organisationen wie Greenpeace, Attac und Via Campesina, die internationale Organisation der Kleinbauern. Sie kämpfen gegen die Konzerne und die Hedgefunds und den gewaltigen Landraub in den Entwicklungsländern. An dieser Front findet der Kampf statt – und er ist hoffnungsvoll. Auch in der Schweiz ist es den Jungsozialisten in kürzester Zeit gelungen, eine Initiative gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln auf die Beine zu stellen, eine Initiative übrigens, die Chancen hat, angenommen zu werden. Es gibt Hoffnung!

Was ebenfalls überrascht in Ihrem Buch ist Ihr Loblied auf die Nation. Wie ist das zu verstehen?
1752 hat Jean-Jacques Rousseau den Gesellschaftsvertrag verfasst. Darin beschreibt er die Nation. Für Rousseau heisst Nation, dass jeder beitreten kann, wenn er bereit ist, einen Teil seiner Freiheit zugunsten der Gemeinschaft preiszugeben. Im Gegenzug erhält er andere Freiheiten. Er kann Atheist sein oder Spiritist, er kann weiss, schwarz oder gelb sein, etc. 

Also eine Art Multikulti-Gesellschaft?
Nein, eine Nation ist eine Gemeinschaft von Individuen, die für ein gemeinsames Ziel einen Teil ihrer Freiheit abgeben und dafür für ihre eigene Sicherheit einen Teil zurückerhalten. Rousseau sagt: Die Nation ist das befreiende Gesetz. 

Was heisst das konkret?
Souveränität des Volkes, Menschenrecht, Gewaltenteilung, Schutz von Minoritäten: Das ist die Nation, eine unglaubliche zivilisatorische Errungenschaft. 

«Der Dschungel breitet sich aus, auch in Europa.»

Und was ist mit Nationalismus?
Dass der Begriff Nation pervertiert wird, dass Adolf Hitler das Wort Nation missbraucht hat, um die schlimmsten Verbrechen der jüngeren Geschichte zu begehen, das bedeutet nicht, dass die Nation nicht ein grosser Schritt in der Zivilisation darstellt. Auch die Nationalisten der Gegenwart können die Nation nicht entwerten. Wir müssen die Nation im Sinne von Rousseau wiederherstellen.

Gleichzeitig schwärmen Sie auch von geschichtslosen Stammesgesellschaften. Wie passt das zusammen? 
In Europa ist die Nation eine zivilisatorische Errungenschaft. Aber es gibt auch andere Gesellschaftsmodelle, von denen wir viel lernen können. Stammesgesellschaften sind nicht einfach unterentwickelt. Es handelt sich um eine andere Welt, die wir respektieren müssen.

Junge Mutter mit Kind in einer Stammesgesellschaft.
Junge Mutter mit Kind in einer Stammesgesellschaft.bild: shutterstock

Die Zivilgesellschaft, die Sie propagieren: Ist das eine aufgeklärte Nation oder eine digitale Stammesgesellschaft?
Das wissen wir nicht. Wir wissen bloss, was wir nicht wollen: Niemand will, dass alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, auch der bornierteste Genfer Bankier nicht. Jeder hat auch eine Vorstellung von einer Welt, in die er will. Aber wie man dort hinkommt, das ist das Geheimnis der Geschichte. 

Ist das alles? Soll das reichen?
Leider. Es ist nicht einfach die Ausrede eines faulen Soziologen, es ist unser Schicksal. Es hat keinen Sinn, wenn wir die Gesellschaft der Zukunft jetzt konstruieren wollen. Sprichwörtlich ausgedrückt: Man kann den Weg nicht vorhersehen, unsere Füsse machen ihn selber.

Ein prima Schlusswort, Herr Ziegler, vielen Dank für das Gespräch ...
Moment: Ich hätte noch ein besseres Schlusswort. 

Nämlich?
Gott hat keine anderen Hände als die unseren. Wir müssen die kannibalische Weltordnung brechen – sonst macht es niemand.  

Jean Ziegler ist Soziologe und emeritierter Professor der Universität Genf. Bis 1999 war er Genfer Nationalrat für die SP. Von 2000 bis 2008 war er Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. Ziegler ist mehrfach ausgezeichnet worden und hat eine ganze Reihe von Büchern geschrieben. Sein jüngstes trägt den Titel «Ändere die Welt!»
 

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4 Kommentare
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Lowend
26.04.2015 10:33registriert Februar 2014
Wenn ich den Satz: "Ich spreche von den Marketing-Spezialisten, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Mörgeli & Co. sind nur die Papageien, die nachher im Schaufenster stehen und nachplappern." möchte ich gerne wissen, wie viele Milliarden Blocher und Co. in den letzten Jahrzehnten dafür gezahlt haben, die Schweizer gegeneinander aufzuhetzen und Unfrieden zu stiften. Eigentlich sind solche Kampagnen schlimmer, als jeder Ultra, oder Linker Chaot, denn Blocher's Milliarden sind nur dazu da, die Schweiz zu zerstören! Kein Wunder, dass diese dauerhetzende Partei keine offene Parteifinanzen will!
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plapperi
20.03.2017 20:05registriert Februar 2017
Wenn ich Herrn Ziegler lese und/oder ihm zuhöre, frage ich mich immer, wie einige Herrn Köppel als Intellektuellen bezeichnen können. Entschuldigung, aber Herr Köppel fehlt dazu einfach jegliches Format. Um es direkt zu sagen, Herr Köppel ist bloss ein Volksverhetzer mit ein wenig gespeichertem Wissen, aber ohne erforderlichen Intellekt um daraus Visionen zu gestalten. Man kann Herrn Ziegler durchaus kritisieren, dass er oft zu visionär ist in seinen Ausführungen. Meines Erachtens macht ihn dies aber gerade so besonders. Sein Denken ist vorausschauend ohne die Geschichte zu vergessen.
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