Auf dem Tischchen beim grünen Sofa stehen frische Blumen, die Sonne scheint durchs Fenster: Simonetta Sommaruga, 59, empfängt in ihrem neuen Bundeshaus-Büro.
Anfang Jahr hat die SP-Bundesrätin das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) übernommen. Sie kümmere sich hier um Themen, die alle etwas angehen, sagt Sommaruga. Selbst ihr Zahnarzt, mit dem sie früher nie über Politik geredet habe, spreche sie nun auf die Poststellen an.
Die Alpeninitiative wurde bis heute nicht umgesetzt: Es queren mehr Lastwagen die Alpen als die gesetzlich erlaubten 650'000. Wie gross ist der Frust darüber?
Simonetta Sommaruga: Heute fahren 941'000 Lastwagen über die Alpen, ohne Alpeninitiative wären es fast zwei Millionen. Die Alpeninitiative hat also sehr viel erreicht, aber klar: Wir sind noch nicht am Ziel. Deshalb will ich mit einem Massnahmenpaket die Verlagerung von der Strasse auf die Schiene noch attraktiver machen. Es braucht jetzt ganz konkrete Schritte.
Nämlich?
Im Gespräch mit Transportunternehmen habe ich festgestellt: Sie sind sehr wohl bereit, mehr zu verladen, aber dafür müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein. Die Verlagerung muss günstig und zuverlässig sein. Das will ich anpacken.
Was heisst das genau?
Erstens sollen die Trassenpreise – also die Gebühren für die Benutzung der Schienen – weiter sinken. Zweitens soll es einen Rabatt für lange Güterzüge geben, das fördert die Effizienz. Und drittens sollen die Transporteure im kombinierten Verkehr – die Güter von der Strasse auf die Schiene umladen – weiterhin Beiträge für einen kostendeckenden Betrieb erhalten. Diese Unterstützung hätte 2023 auslaufen sollen. Da der Güterkorridor Rotterdam–Genua dann aber nicht fertig ist, sollen die Transporteure noch etwas länger unterstützt werden.
Sie wollen den Kombiverkehr durch die Alpen länger fördern. Heute belaufen sich die Betriebsbeiträge, mit denen die Schiene konkurrenzfähig gemacht wird, auf jährlich rund 110 Millionen Franken. Und künftig?
Die exakten Zahlen kann ich Ihnen noch nicht nennen. Der Grundsatz steht für mich dagegen fest: Damit die Schiene im Wettbewerb mit der Strasse ihre Vorteile voll ausspielen kann, braucht es die Betriebsbeiträge für die Transporteure vorerst weiterhin.
Besteht nicht die Gefahr, dass das Geschäft mit dem Umladen auch langfristig nur dank Subventionen funktioniert?
Nein. Unsere Transporteure arbeiten gut. Indem die Beiträge noch etwas länger bezahlt werden, gleichen wir einzig die Nachteile aus, die sie haben, weil der Streckenausbau im Ausland sich verzögert.
Und was wird Ihr neues Massnahmenpaket unter dem Strich kosten?
Wir gehen davon aus, dass die Transporteure durch die Senkung der Gleisnutzungspreise rund 20 Millionen einsparen. Wie hoch künftig die Betriebsbeiträge für die Transporteure ausfallen sollen, schauen wir noch genau an.
Die Alpeninitiative warf Ihrer Vorgängerin Doris Leuthard fehlendes Engagement vor. Sie möchten es jetzt also besser machen?
Ich habe mit Transportunternehmern gesprochen. Sie haben mir alle dasselbe gesagt: «Die Schiene muss zuverlässig und günstig sein, dann sind wir bereit, mehr zu verlagern.» Bei mir rennen die Transporteure mit dieser Forderung offene Türen ein. Ein Massnahmenpaket ist die richtige Antwort.
Das ist eine Kehrtwende. Bislang hat der Bundesrat gesagt: Jetzt erreichen wir das Ziel von 650'000 Durchquerungen nicht. Aber mit dem Ceneri-Basistunnel und dem Vier-Meter- Korridor wird es schon werden. Es ist schon erstaunlich, dass Sie nun ein neues Massnahmenpaket ankünden.
Es ist nicht «entweder oder». Die Schweiz hat viel investiert: Zuerst in den Gotthard-Basistunnel, nächstes Jahr eröffnen wir den Ceneri-Basistunnel und dann kommt noch der Vier-Meter-Korridor. Die Schweiz ist mit den Ausbauten gut unterwegs. Aber das soll uns nicht daran hindern, noch mehr auf diesem Weg zu machen. Am Schluss profitieren alle von dieser Verlagerungspolitik.
Damit klappt es nur, wenn unsere Nachbarländer auch vorwärtsmachen. Haben Sie da einen Hebel?
Deutschland und Italien sind zentral, um einen höheren Anteil der Schiene auf dem Güterkorridor Rotterdam–Genua zu erreichen. In Italien sind die Kapazitäten aus heutiger Sicht vorhanden, aber Deutschland hinkt leider hinterher. Umso wichtiger sind weitere Efforts.
Deutschland schiebt den Termin für den Vollausbau der Rheintalstrecke – und damit für den Zulauf zur Neat – immer weiter hinaus.
Das wird Thema sein, wenn ich nächste Woche erstmals den deutschen Verkehrsminister Andreas Scheuer treffe. Ich werde ihm aufzeigen, was die Schweiz in den vergangenen Jahren gemacht hat. Die Verlagerung auf die Schiene ist auch in Deutschland und vielen anderen Ländern ein Thema. Man spürt, dass die Bevölkerung die Nase voll hat von immer mehr Lastwagen auf der Strasse.
Hat die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) nicht einfach dazu geführt, dass der alpenquerende Transitverkehr auf die Nachbarländer ausgewichen ist?
Nein, so kann man das nicht sagen. Die Alpeninitiative und ihr Grundsatz «Güter gehören auf die Schiene» haben viel Positives ausgelöst. 2001 durchquerten noch 1.4 Millionen Lastwagen die Alpen. Jetzt sind wir bei 941'000 Lastwagen – und das bei stetig wachsendem Güterverkehr. Gerade die LSVA stösst bei Gesprächen mit Amtskollegen anderer Länder auf grosses Interesse.
Allerdings: Vor der Abstimmung über die Initiative warnte der Bundesrat vor Retorsionsmassnahmen durch die EU. Nie würde Brüssel eine solch strenge Verlagerungspolitik schlucken, hiess es. Trotzdem gab es eine Lösung. Was lehrt uns die Geschichte?
Dass immer eine pragmatische Lösung möglich ist, wenn wir den Kompromiss suchen. Das Landverkehrsabkommen mit der EU setzt uns aber gewisse Schranken, etwa mit Blick auf eine Alpentransitbörse …
… ihre Einführung ist bislang stets gescheitert. Demnach würden die LKW-Fahrten durch die Alpen an einer Börse verkauft. Die Nachfrage würde den Preis bestimmen.
Die Idee klingt an sich interessant. Das geht aber nicht im Alleingang. Wir müssten mit der EU das Landverkehrsabkommen neu verhandeln und riskieren so Gegenforderungen – etwa die Aufhebung des Nachtfahrverbots. Wir haben ein grosses Interesse daran, Errungenschaften wie das Nachtfahrverbot nicht preiszugeben.
Mit anderen Worten: Auch mit Ihnen gibt es keine Alpentransitbörse.
Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Was aber klar ist: Ich habe lieber konkrete Massnahmen, die etwas bringen, statt endlose Diskussionen, die am Ende vielleicht versanden. Da bin ich pragmatisch.
Warum wird bei der LSVA nicht auch der CO2-Ausstoss eines Lastwagens berücksichtigt?
Die EU klassiert regelmässig Lastwagen ab, die zu viel C02 ausstossen. Für diese wird es teurer. Diesen Punkt werden wir sicher auch anschauen. Wir können ältere und schmutzige Lastwagen abklassieren, sodass die LSVA bei ihnen steigt: Die Schweizer Transportbranche scheint mir aber ohnehin gut aufgestellt. Die Unternehmen rechnen: Wenn es sich für sie lohnt, wegen des geringeren Verbrauchs auf ein neues Modell zu setzen, dann tun sie das schon heute.
Wird das magische Ziel von 650'000 alpenüberquerenden Fahrten in ein paar Jahren also endlich Realität?
Der Bevölkerung bringt es wenig, sich einfach auf eine Zahl festzulegen. Es bringt ihr mehr, wenn wir nun mit neuen Massnahmen vorwärtsmachen. Auch mit Blick auf unsere Umwelt.
Hinter der Alpeninitiative stand eine Bürgerbewegung – wie heute die Klimajugend, die ihre Zukunft durch den Klimawandel bedroht sieht. Sehen Sie da Parallelen?
Ja. Starke Umweltbewegungen haben in der Schweiz eine gewisse Tradition, ich denke da etwa auch an die Rothenthurm-Initiative oder die Kaiseraugst-Bewegung. Jetzt sind es junge Menschen, die finden, dass es so nicht mehr weitergehen kann, dass man ihnen nicht einfach einen riesigen Problemberg überlassen darf.
Ist die Bevölkerung eher als die Politik dazu bereit, ein Umweltproblem als gesellschaftliches Problem anzuerkennen?
In der Umweltpolitik braucht es immer beides: Die Bevölkerung, die Druck macht, und Politiker, die den Ball aufnehmen und konkrete Massnahmen beschliessen. Die Alpeninitiative zeigte das beispielhaft. Beim Klimaschutz ist die Botschaft ebenfalls angekommen, die Klimajugend hat eine gute Dynamik ausgelöst. Das dürfte sich auch zeigen, wenn der Ständerat bald über das CO2-Gesetz berät.
Kommen wir zur Verlagerung im Personenverkehr. Die Diskussion um die Kostenwahrheit bei der Mobilität ist neu entbrannt. Die öV-Branche will die Preise des Generalabonnements (GA) erhöhen. Fahren Vielpendler heute zu günstig Zug?
Die Diskussion hat vor allem eines gezeigt: Die Bevölkerung hängt am GA. Ich gehe davon aus, dass die Branche das weiss und keinen Schnellschuss machen wird.
Das GA darf nicht teurer werden?
Diese Frage suggeriert, dass ich darüber entscheiden kann. Doch die Tarifgestaltung ist Sache der Branche.
Könnten mit höheren GA-Preisen nicht Mittel frei werden, um Einzelbillette zu vergünstigen? So könnte man, salopp formuliert, mehr Personen von der Strasse auf die Schiene verlagern – ein politisches Ziel.
Die Preise werden von den Transportunternehmen und den Verkehrsverbünden ausgehandelt.
Frei von der Politik?
Die Politik hat entschieden, dass sie sich nicht in die Tarifgestaltung einmischt. Und die Branche ist schlau genug, ihre Preispolitik mit der Bevölkerung zu machen und nicht gegen sie.
Ist das eine Absage an das Konzept des Mobility Pricing, das nach dem Prinzip funktioniert: Wer zu attraktiven Zeiten viel auf beliebten Bahnlinien und Strassen fährt, soll mehr bezahlen?
Mobility Pricing wird breit diskutiert. Ich habe festgestellt, dass verschiedene Leute sehr unterschiedliche Vorstellungen von Mobility Pricing haben. Die einen wollen die Mobilität bremsen, andere die Spitzen bei der Strassen- oder Bahnnutzung brechen, und die Dritten wollen mit Mobility Pricing die Infrastruktur finanzieren. All diese Ziele kann man nicht zusammen erreichen. Das Bundesamt für Strassen erstellt anhand von Berechnungen zum Kanton Zug eine Analyse zur technischen Machbarkeit. Ich möchte zuerst die Ergeb- nisse eingehend analysieren, bevor ich mich zum Mobility Pricing äussere.
Ursprünglich war geplant, dass sich der Bundesrat bis im Sommer äussert, wie es mit Mobility Pricing weitergeht. Wie sieht der Fahrplan aus?
Der Bundesrat wird noch dieses Jahr über das weitere Vorgehen entscheiden.
Die Verkehrspolitik steckt in einer Kostenspirale fest. Der subventionierte Kapazitätsausbau fördert die Mobilität, welche wiederum subventionierten Kapazitätsausbau nach sich zieht.
Die Frage ist nicht, ob Mobilität gut oder schlecht ist. Tatsache ist, dass die Menschen das Bedürfnis haben, mobil zu sein, und dies von vielen Arbeitgebern auch erwartet wird. Daneben gibt es die Bedürfnisse jener zur berücksichtigen, die von Auswirkungen wie Lärm betroffen sind. Und natürlich die Umweltfragen. Wir dürfen in der Verkehrsdiskussion nicht in eine Entweder-oder-Falle tappen, sondern müssen zusammen mit der Bevölkerung nach Lösungen suchen. Aber natürlich: Die Herausforderungen sind gross. Es gibt jedoch nicht einfach eine Massnahme, die Wunder bewirkt.
Gerade beim Bahnausbau redet niemand über den teuren Unterhalt, das ist doch unehrlich.
Ja, ich wehre mich auch stark dagegen, dass diese Unterhaltskosten einfach ausgeblendet werden. Der Ausbau von Infrastrukturen bringt immer Folgekosten mit sich. Mobilität kostet: Wir müssen uns fragen, was wir wollen und wer es bezahlt. In diesem Raster bewegen wir uns. Geben Sie mir noch etwas Zeit, ich bin erst seit vier Monaten Uvek-Vorsteherin. Jetzt machen wir mal die Schiene für den Gütertransport attraktiver. Und dann suchen wir in anderen Verkehrsbereichen gute Lösungen.
Eine letzte Frage: Am 14. Juni ist Frauenstreik. Streiken Sie auch?
Sie erfahren noch früh genug, was ich am 14. Juni machen werde.
Dürfen denn Ihre Mitarbeiterinnen im Departement streiken?
Mir ist der Frauenstreik wichtig. Wie es dann konkret aussieht, schauen wir derzeit an.