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«Von Schmerz keine Spur. Aber schade ist es schon. Nicht für mich persönlich, sondern für das Land»

Bild: KEYSTONE
Jakob Kellenberger zum abstimmungs-ja

«Von Schmerz keine Spur. Aber schade ist es schon. Nicht für mich persönlich, sondern für das Land»

Als Chefunterhändler des Bundesrats rang Jakob Kellenberger 1994-1999 mit der EU über die Personenfreizügigkeit. Nach dem Ja am Sonntag sieht der Berufsdiplomat schwere Zeiten auf die Schweiz zukommen.
15.02.2014, 11:0424.06.2014, 09:35
Kian Ramezani
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Was war Ihre Reaktion auf das Abstimmungsergebnis am Sonntag?
Jakob Kellenberger: Ich war überrascht. Ich wusste, dass es knapp werden könnte. Aber aufgrund der umfassenderen Argumente gegen eine Annahme hatte ich mit einer Ablehnung gerechnet.

Sie waren damals Chefunterhändler für die Bilateralen I. Schmerzt es Sie persönlich, dass der Souverän nun einen zentralen Teil des Abkommens infrage stellt?
Von Schmerz keine Spur. Aber schade ist es schon. Nicht für mich persönlich, sondern für das Land. Ich stelle immer wieder fest, wie schwer es uns fällt, in unserer Beziehung zu Europa die richtige Temperatur zwischen Defätismus und Überheblichkeit zu finden.

«Auf der einen Seite steht die grösste Wirtschaftsmacht der Welt und auf der anderen die Schweiz. »

Bitte erklären Sie.
Man muss realistisch sein: Auf der einen Seite steht die grösste Wirtschaftsmacht der Welt und auf der anderen die Schweiz. Ein bedeutendes Land zwar, aber doch sehr viel kleiner. Die bilateralen Verträge sind eine hervorragende Form der Zusammenarbeit bei einem derart ungleichen Verhältnis. Sie in einem für die EU derart heiklen Aspekt infrage zu stellen, führt uns in eine Phase der grossen Unsicherheit.

Jakob Kellenberger (erste Reihe links) mit den Bundesräten Joseph Deiss und Pascal Couchepin sowie EU-Ratspräsident Joschka Fischer und EU-Aussenkommissar Hans van den Broek bei der Unterzeichnung der Bilateralen I 1999 in Luxemburg.Bild: KEYSTONE

Die EU schliesst eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit kategorisch aus. Genau das trägt der Volkswille dem Bundesrat auf. Wie soll er diesen gordischen Knoten lösen?
Es ist für mich eine offene Frage, ob es eine Lösung gibt. Wenn die EU sagt, die Personenfreizügigkeit sei für sie unverhandelbar, sollten wir das sehr ernst nehmen. Vielleicht lässt sie mit sich reden, wenn wir im Gegenzug auf den diskriminationsfreien Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt verzichten. Aber das muss dann jemand der Wirtschaft und der Bevölkerung hier erklären.

Beim Rückflug aus Luxemburg wurde angestossen.Bild: KEYSTONE
«Ich neige weder zur Dramatisierung noch zur Verniedlichung, aber ich sehe die Lage etwas weniger optimistisch.»

Es gibt Stimmen, wonach die EU und die Schweiz genügend gemeinsame Interessen haben, die ein Zerwürfnis verhindern. Sehen Sie das auch so?
Ich neige weder zur Dramatisierung noch zur Verniedlichung, aber ich sehe die Lage etwas weniger optimistisch.

Auch nach dem EWR-Nein 1992 herrschte eine gewisse Ratlosigkeit. Wie beurteilen Sie die Verhandlungsposition der Schweiz heute im Vergleich zu damals?
Die Ausgangslage ist eine völlig andere. Zwischen der Schweiz und der EU besteht heute ein dichtes Netz sektorieller Abkommen. Nach dem EWR-Nein 1992 war die Hilflosigkeit mancherorts gross. Allerdings traten all die wirtschaftlichen Nachteile, die manche vorhersagten, nicht ein.

21. Mai 2000: 67,2 Prozent für die Personenfreizügigkeit

Video: YouTube/watson mit freundlicher Genehmigung von SRF

Könnte es sein, dass durch die ausgebliebenen negativen Folgen des EWR-Neins die Bevölkerung sich am vergangenen Sonntag in falscher Sicherheit wiegte?
Sagen wir es so: Ich bin mir nicht sicher, ob die Leute im vollen Bewusstsein über die Folgen einer Annahme abgestimmt haben.

Bild
Bild: KEYSTONE
Jakob Kellenberger (geboren 1944) trat 1974 in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein und übernahm verschiedene Posten innerhalb Europas. Zwischen 1994 und 1999 war er Chefunterhändler für die Verhandlungen mit der Europäischen Union zu den Bilateralen Verträgen I, die auch die Personenfreizügigkeit beeinhalteten. Von 2000 bis 2012 war er Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK).

Wem ist dieses Versäumnis anzukreiden?
Eine Schuldzuweisung wäre mir zu einfach. Aber bei aussenpolitisch derart relevanten Abstimmungen müssen wir schon das Maximum unternehmen, um den Stimmbürgern auf verständliche Art und Weise die möglichen Konsequenzen aufzuzeigen.

Dann frage ich anders: Welche Argumente hätte man im Abstimmungskampf stärker betonen sollen?
Ich komme noch einmal auf die Grössenordnung zurück. Es stimmt, wir sind ein guter Kunde der EU. Zwischen sechs und sieben Prozent ihrer Exporte gehen in die Schweiz. Wir aber exportieren zu 50 bis 60 Prozent in die EU. Das sind ganz andere Verhältnisse der gegenseitigen Abhängigkeit, die man auch immer wieder thematisieren muss, und zwar nicht nur vor Abstimmungen. Man hätte auch auf den Steuerstreit mit den USA verweisen können: Innerhalb weniger Wochen war das integrale Bankgeheimnis am Ende. Das ist doch ein Lehrstück in Sachen Grössenordnung.

Einige Politiker sehen den bilateralen Weg am Ende. Welche andere Optionen hat die Schweiz?
Wir haben zwei: beitreten oder nicht beitreten. Wählen wir letztere, dann ist der bilaterale Weg eindeutig der beste. Ich halte ihn nicht für am Ende. Unser Problem ist die Unsicherheit, die ich eingangs erwähnte. Die Schweiz lebt schlecht mit Unsicherheit, viel schlechter als die EU. Sie kann warten, bis die Schweiz mit Vorschlägen kommt. Aus den bisherigen Stellungnahmen erhalte ich den Eindruck, dass der Bundesrat schnell Vorschläge unterbreiten will.

Hielten Sie es für förderlich, wenn die SVP in die Umsetzung ihrer Initiative eingebunden wäre?
Ja, und da bin ich sicher nicht der Einzige. Die SVP sollte zudem zwei Sitze und ein für die Aussenbeziehungen wichtiges Departement erhalten. Sie ist die massgebende Partei in den europapolitischen Fragen und sollte jetzt Verantwortung übernehmen. Das steht für mich ausser Frage.

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Ich stelle mir gerade vor, wie ich vor 50 Jahren meinen Job erledigt hätte. Alleine für diesen Artikel hätte ich mich in ein Archiv begeben müssen. Dann hätte ich mir Notizen gemacht, wäre zurück an meinen Arbeitsplatz und hätte in meine Schreibmaschine getippt. Wäre ein Tippfehler aufgetaucht, wovon ich schwer ausgehe, hätte ich das Blatt entfernen, den Fehler mit Tipp-Ex überstreichen und das Papier wieder einsetzen müssen. (So zumindest stellt man sich das als Gen Y vor.)

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