«Jetzt muss ich wieder in den Lockdown.» So kommentierte die Inhaberin eines Geschäfts für Inneneinrichtung in der Agglomeration Zürich am Mittwochabend die neuesten Beschlüsse des Bundesrats. Sie muss ein weiteres Mal mit ihrem Vermieter über eine Reduktion feilschen, bleibt ansonsten aber gelassen. It is what it is.
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Mit dieser Einstellung wirkt meine Bekannte ein wenig exotisch. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass der Corona-Konsens der ersten Welle in Scherben liegt, dann waren es die teilweise heftigen Reaktionen auf den Entscheid des Bundesrats. Bei vielen Menschen ist das Nervenkostüm mittlerweile so belastbar wie ein Spinnennetz.
Einen «echten» Lockdown wie im Frühjahr gibt es weiterhin nicht – Schulen und Skigebiete bleiben (vorerst) offen, was der Absicht des Bundesrats widerspricht, die Kontakte zu reduzieren. Und teilweise sind die Massnahmen etwa bei den Ladenschliessungen widersprüchlich. Dennoch lässt sich sagen, dass der Bundesrat den «Schweizer Weg» beendet hat.
Das stösst vor allem der SVP sauer auf. In einer Mitteilung prügelt sie wild auf Gesundheitsminister Alain Berset ein, als ob dieser allein entscheiden könnte. Gleichzeitig versucht sie, ihre Bundesräte als «Unschuldslämmer» darzustellen. Fraktionschef Thomas Aeschi behauptete auf Twitter, Guy Parmelin habe das Lager NICHT gewechselt.
Das ist nicht nur ein Verstoss gegen das Kollegialprinzip, sondern schlicht falsch. Laut Medienberichten und watson-Informationen ist Parmelin, mit Amt und Bürde des Bundespräsidiums auf seinen Schultern, tatsächlich gekippt. Er hat die Verschärfungen und Verlängerungen mitgetragen. Nur Ueli Maurer war erneut der Covid-Rebel-in-Chief.
Vor den Medien machte der Finanzminister seinem Ärger Luft. Einmal mehr jammerte er über den Schuldenberg, der die Schweiz in den nächsten 15 bis 20 Jahren beschäftigen werde. Dabei weisen renommierte Ökonomen wie Marius Brülhart darauf hin, dass «die Schweiz von allen Ländern eigentlich dasjenige ist, das es sich am besten leisten kann, grosszügig zu sein».
Und grosszügig muss sie sein, denn die betroffenen Branchen klagen zurecht über ihre düsteren Perspektiven. Auch hier liegen die Nerven blank, wird eine Pleitewelle befürchtet. Nun sollen Entschädigungen fliessen. Zuständig wären die Kantone, doch dort harzt es. Der «Seuchenföderalismus» erweist sich einmal mehr als überfordert.
Davon kann auch der knatternde Auftritt des Zürcher Finanzdirektors Ernst Stocker (SVP) vom Mittwoch nicht ablenken, ebensowenig die salbungsvollen Worte (ausgerechnet) des Basler SP-Regierungsrats Christoph Brutschin an die Adresse seines Zürcher Kollegen. Je länger es dauert, bis das Geld in den Betrieben ankommt, umso schlimmer wird es.
Manche Bundesrats-Kritiker stürzen sich deshalb auf die sinkenden Fallzahlen der letzten Tage und fordern nicht nur einen Verzicht auf neue Massnahmen, sondern gleich auch die Aufhebung des Beizen-Lockdowns. Die Entwicklung ist tatsächlich positiv. Die Mahnungen, über die Festtage die Kontakte zu reduzieren, scheinen gewirkt zu haben.
Selbst die Zahl der Hospitalisierungen ist rückläufig. Doch der typische Covid-19-Patient auf den Intensivstationen zeigt, dass wir das Problem längst nicht überwunden haben, wie die oberste Schweizer Intensivmedizinerin Antje Heise im Interview mit CH Media sagte:
Es sind also nicht die oft genannten über 80-Jährigen mit mehreren Vorerkrankungen, die man ohnehin am Besten unter die Erde bugsieren würde, wie besonders zynische Hysteriker angeregt haben. Diese sterben vor allem in den Alters- und Pflegeheimen. Es sind Menschen im besten Alter, die unsere Spitäler und das Pflegepersonal belasten.
Die aktuell scheinbar positive Corona-Entwicklung erinnert auch fatal an die Situation in der zweiten Hälfte September, als selbst Epidemiologen glaubten, die Schweiz sei auf dem richtigen Weg. Kurz darauf explodierten die Fallzahlen. Es ist die Furcht vor einer Wiederholung dieses Szenarios, die den Bundesrat zum Handeln genötigt hat. Und diese Furcht ist berechtigt.
Was die neue Mutation B.1.1.7 anrichtet, kann man in London erleben. Von dort erreichen uns Bilder, die an Bergamo im Frühjahr erinnern. Nur dass dieses Mal nicht Militärlastwagen Leichen abtransportieren, sondern Ambulanzen sich vor dem Spitaleingang stauen. Unfallopfer müssen laut britischen Medien teilweise Stunden auf eine Behandlung warten.
Und der Mutant ist bei uns angekommen. In Wengen (BE) hat ein britischer Tourist als Superspreader 27 Menschen vermutlich damit angesteckt. Es wäre ein klarer Hinweis, dass die neue Variante viel ansteckender ist als die bisher kursierende. Wer das unterschätzt, hat das exponentielle Wachstum immer noch nicht verstanden.
Besonders eingefahren ist dem Bundesrat die Corona-Lage in Irland. Dort hatte man die Krise lange im Griff, doch zuletzt sind die Fallzahlen raketenhaft durchgestartet, wegen B.1.1.7. Für die Schweiz mit ihrem hohen Infektionsniveau wäre dies fatal. Deshalb will der Bundesrat, der in der zweiten Welle vor allem reagiert hat, für einmal frühzeitig eingreifen.
Eine andere Wahl hat er nicht, denn die Impfungen werden nicht so schnell wirken wie erhofft, obwohl nun auch das Vakzin von Moderna zugelassen ist. Einige Hysteriker rufen deshalb nach «Crashimpfungen» wie in Israel, nach einem Einsatz der Armee, oder einer Durchimpfung der Heime (schon wieder die Heime!). Doch so einfach ist das nicht.
Die ganze Welt will den Impfstoff, und die Hersteller können nur so viel liefern, wie sie produzieren. Und bei uns sind die Kantone (schon wieder die Kantone!) mit dem Aufbau der Infrastruktur im Rückstand. So gross die Hoffnung in die Impfung ist, so sehr müssen wir uns gedulden. Wenn alles gut geht, könnten wir im Sommer über den Berg sein.
Vieles ist noch unklar, wie Christoph Berger, der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, im Tamedia-Interview erklärte. Für die Herdenimmunität, mit der die Verbreitung des Virus unterbunden wird, müsste je nach Verlauf eine Durchimpfungsrate von bis zu 80 Prozent erreicht werden. Da gilt es noch einige Skeptiker zu überzeugen.
«Wir sind im engen dunklen Tunnel, aber wir sehen das Licht», sagte Berger am Donnerstag auf Radio SRF. Vielen genügt das nicht. Die Corona-Müdigkeit ist gross, und gerade in der dunklen und kalten Jahreszeit sehnt man sich nach menschlicher Wärme und Zuneigung. Vermutlich sinken die Fallzahlen deshalb auch in Ländern mit Lockdown nur zögerlich.
Es bringt aber nichts, die Nerven zu verlieren. Das Virus gibt uns den Takt vor, nicht umgekehrt. Das können viele in unserer auf maximale Kontrolle und Absicherung getunten Gesellschaft schwer akzeptieren. Gegen den Schwebezustand zwischen Mutantenärger und Impfhoffnung hilft letztlich nur Gelassenheit. It is what it is.