Am 25. August 2020 erschoss Kyle Rittenhouse zwei Menschen in Kenosha. Nun steht er vor Gericht – und könnte ungestraft davonkommen.
Aber der Reihe nach: eine Chronologie der Kenosha-Schiesserei und des aktuellen Prozess in 5 Punkten.
Am 23. August 2020 wird der Afroamerikaner Jacob Blake bei einem Polizeieinsatz in Kenosha, Wisconsin, durch Schüsse eines Polizisten gelähmt. Der Vorfall bekommt – nur wenige Monate nach dem Tod von George Floyd – medial viel Aufmerksamkeit. In der Folge protestiert die Black-Lives-Matter-Bewegung gegen Polizeigewalt in Kenosha.
Während die Demonstrationen tagsüber friedlich verlaufen, eskaliert die Situation abends und während der Nacht mehrfach: Brände werden gelegt, Läden geplündert oder Feuerwerkskörper auf die Polizei abgefeuert.
Unter die Demonstrierenden mischen sich Anhänger der Blue-Lives-Matter-Bewegung. Diese setzen sich für eine stärkere Bestrafung bei Gewalt gegen Polizisten ein. Auch Rittenhouse ist Anhänger der Blue-Lives-Matter-Bewegung.
Rittenhouse war zum Tatzeitpunkt 17-jährig. Er lebte nicht in Kenosha, Wisconsin, sondern im rund 30 Minuten entfernten Antioch, Illinois. Zum Zeitpunkt der Unruhen in Kenosha nimmt Rittenhouse an einem Polizeikadettenprogramm teil und spricht sich in den sozialen Medien für die Blue-Lives-Matter-Bewegung aus.
In den Sozialen Medien soll Rittenhouse von einem Geschäftsinhaber gehört haben, der um Hilfe bei der Verteidigung seines Autohauses gegen die randalierenden Demonstranten in Kenosha bat. Darum bewaffnete Rittenhouse sich mit einer Smith & Wesson M&P15 und einem Verbandskasten und suchte den Autohändler auf.
Etwa zwei Stunden vor der ersten Schiesserei gibt Rittenhouse einem Livestreamer ein Interview bei dem besagten lokalen Autohändler. Er sei hier in Kenosha, um die Geschäfte zu beschützen, sagt er dem Interviewer. Er nennt es «seinen Job».
Rittenhouse verlässt das Autohaus. Sechs Minuten später zeigen Aufnahmen, wie er von einer unbekannten Gruppe von Menschen auf den Parkplatz eines anderen Autohändlers einige Blocks entfernt davonläuft. Während Rittenhouse von der Gruppe verfolgt wird, schiesst ein unbekannter Schütze in die Luft.
Rittenhouse wendet sich dem Schussgeräusch zu. Dabei stürzt sich einer der Verfolger auf Rittenhouse, um ihm die Waffe zu entreissen. Doch Rittenhouse feuert viermal und schiesst dem Mann mit seiner Smith & Wesson M&P15 in den Kopf. Später wird sich herausstellen, dass es sich bei dem Toten um den 36-jährigen Joseph Rosenbaum handelte.
Danach scheint Rittenhouse einen Telefonanruf zu machen und flüchtet vom Tatort.
Videos zeigen, wie Rittenhouse von mehreren Leuten verfolgt wird. Sie rufen: «Das ist der Schütze!» Auf der Flucht stolpert Rittenhouse und fällt zu Boden.
Er wird von einem Mann getreten. Rittenhouse feuert vier Schüsse auf den Angreifer – verfehlt diesen aber. In der Zwischenzeit stürmen drei weitere Leute auf ihn los. Einer versucht mit einem Skateboard auf Rittenhouse einzuprügeln, doch Rittenhouse erschiesst ihn mit einem einzigen Schuss. Später wird sich herausstellen, dass es sich beim Toten um den 26-jährigen Anthony Huber handelt. Einer der Verfolger, Gaige Grosskreutz, ist mit einer Pistole bewaffnet. Grosskreutz richtet seine Waffe auf den am Boden liegenden Rittenhouse. Doch Rittenhouse feuert zuerst und schiesst Grosskreutz den rechten Bizeps weg.
Nach der Schiesserei fliehen Personen vom Tatort und Rittenhouse schlendert in gegengesetzter Richtung der Strasse entlang. Die Polizei fährt in Richtung Opfer mit Blaulicht an ihm vorbei – ohne ihn zu stoppen. Das Video endet.
(Warning, Graphic/Violent)
— Brendan Gutenschwager (@BGOnTheScene) August 26, 2020
A crowd chases a suspected shooter down in Kenosha. He trips and falls, then turns with the gun and fires several times. Shots can be heard fired elsewhere as well, corroborating reports of multiple shooters tonight #Kenosha #KenoshaRiots pic.twitter.com/qqsYWmngFW
Rittenhouse wird aber am nächsten Tag in seiner Heimatstadt Antioch verhaftet.
Rittenhouse wurde u.a. wegen vorsätzlichen Totschlags angeklagt. Radikale Rechte haben zwei Millionen Dollar für Rittenhouses Kaution gesammelt, weshalb er bereits nach wenigen Wochen hinter Gittern wieder auf freien Fuss kam.
Am 1. November 2021 begann nun der Gerichtsprozess gegen Rittenhouse in Kenosha. Und nicht einmal Rittenhouse bestreitet, dass er zwei Menschen erschossen und einen verletzt hat. Allerdings plädieren seine Anwälte auf «Selbstverteidigung».
In einem Kreuzverhör am Montag befragte der Anwalt des Angeklagten den angeschossenen Grosskreutz und versuchte für die Jury den Tatbestand «Selbstverteidigung» zu zeichnen: «Als Sie drei bis fünf Meter von Rittenhouse entfernt standen und Ihre Arme in die Luft streckten, hat er nicht geschossen, richtig?»
«Richtig», antwortete Grosskreutz.
«Erst als Sie Ihre Waffe auf ihn gerichtet haben, auf ihn zugegangen sind, mit Ihrer Waffe auf ihn gerichtet, hat er geschossen, richtig?», fuhr der Anwalt fort.
«Richtig», antwortete Grosskreutz.
Am Mittwochmorgen (Ortszeit) wurde der mittlerweile 18-jährige Rittenhouse vom stellvertretenden Staatsanwalt mehrere Stunden ins Kreuzverhör genommen. Während er in den letzten Tagen immer wieder emotional aufgewühlt wirkte, gab er seine Antworten im Kreuzverhör grösstenteils ruhig und fokussiert. Zwischendurch musste das Kreuzverhör aber unterbrochen werden, da Rittenhouse schluchzend im Zeugenstand zusammenbrach.
«Jeden, auf den sie in dieser Nacht geschossen haben, haben sie versucht zu töten, korrekt?», begann der stellvertretenden Staatsanwalt das Kreuzverhör.
«Ich hatte nicht vor, sie zu töten. Ich wollte diejenigen aufhalten, die mich angegriffen haben», antwortete Rittenhouse.
«Indem sie töteten», bemerkte der stellvertretenden Staatsanwalt.
«Ich habe gemacht, was ich tun musste, um die Personen, die mich angriffen, aufzuhalten», sagte Rittenhouse.
«Indem sie töteten», bemerkte der stellvertretenden Staatsanwalt wiederum.
«Zwei von ihnen sind verstorben. Aber so konnte ich die Gefahr, die mich bedrohte, aufhalten», antwortete Rittenhouse.
«Indem sie tödliche Gewalt («deadly force») angewandt haben», fragte der stellvertretenden Staatsanwalt.
«Ich habe tödliche Gewalt («deadly force») angewandt», bestätigte Rittenhouse.
«Von der sie wussten, dass sie jemanden töten wird», fügte der stellvertretenden Staatsanwalt an.
«Ich wusste nicht, dass sie sie töten würde. Aber ich benutzte tödliche Gewalt («deadly force»), um das abzuwenden, das mich bedrohte», präzisierte Rittenhouse.
Später im Kreuzverhör sagte Rittenhouse: «Ich wollte nicht schiessen», allerdings habe Joseph Rosenbaum vorher bereits versucht ihn zu töten. «Wenn Herr Rosenbaum meine Waffen an sich genommen hätte, dann hätte er mich damit getötet.» Rittenhouse gab allerdings zu, dass die Waffengurte fest an seinen Körper gezurrt waren und er beide Hände auf der Waffe hatte. Rittenhouses Stimme brach, als er sagte: «Er hätte doch wegrennen können, anstatt zu versuchen, mir meine Waffe zu entreissen. Aber er hat nicht aufgehört mich zu jagen.»
Aus dem Kreuzverhör:
«Sie haben vorsätzlich tödliche Gewalt («deadly force») gegen Joseph Rosenbaum angewandt», fragte der stellvertretenden Staatsanwalt.
«Ja», bestätigte Rittenhouse
«Sie haben vorsätzlich tödliche Gewalt («deadly force») gegen den Mann angewandt, der versuchte, sie ins Gesicht zu treten», fragte der stellvertretenden Staatsanwalt.
«Ja», bestätigte Rittenhouse
«Sie haben vorsätzlich tödliche Gewalt («deadly force») gegen Anthony Huber angewandt», fragte der stellvertretenden Staatsanwalt.
«Ja», bestätigte Rittenhouse.
«Sie haben vorsätzlich tödliche Gewalt («deadly force») gegen Gaige Grosskreutz angewandt», fragte der stellvertretenden Staatsanwalt.
«Ja», bestätigte Rittenhouse.
Der Vorsitzende des Gerichtsprozesses, Richter Bruce Schroeder, hat verboten, dass die Staatsanwaltschaft während des Prozesses die Toten als «Opfer» bezeichnet – lässt aber die Zuschreibungen «Plünderer», «Brandschatzer» oder «Krawallmacher» seitens der Verteidigung Rittenhouses gelten. Zudem lehnte er es ab, Rittenhouses Verbindung zu den rechtsradikalen «Proud Boys» als Beweismittel für Rittenhouses Denkweise während der Schiessereien zuzulassen.
Ob Rittenhouse wegen «vorsätzlichen Totschlags» verurteilt wird – oder mit dem Tatbestand «Selbstverteidigung» den Kopf aus der Schlinge ziehen kann – wird noch verhandelt.
Teile dieses Artikels erschienen auf watson bereits am 27.08.2020:
(yam/jaw)