Bernie Sanders ist der Mann der Stunde. Bei den Vorwahlen der Demokraten hat der 78-Jährige einen fulminanten Start hingelegt. Gestern gewann der unverwüstliche Senator aus Vermont mit rund 26 Prozent der Stimmen im Staat New Hampshire.
Laut den neuesten Umfragen ist Sanders jetzt landesweit der beliebteste Kandidat unter den demokratischen Wählenden. Trotz seines hohen Alters ist er gerade bei den Jungen äusserst populär. 49 Prozent der unter 30-Jährigen gaben ihm gestern ihre Stimme.
Sanders weiss zu mobilisieren und kann im ganzen Land auf zahlreiche Fans zählen. Auch auf Social Media ist er den anderen Kandidaten weit voraus.
Dennoch tun sich das Partei-Establishment und diverse Leitmedien schwer mit Sanders. Polit-Kommentator Van Jones meinte gestern auf CNN:
Damit kritisierte er auch den Sender, auf dem er gerade zu sehen war.
"Bernie Sanders is a phenomenon...he's doing stuff we don't talk about, he appeals to young people, people of color, he's got an army of donors. If anybody else had all that we'd say this guy is our guy. But for whatever reason we talk about everybody but Bernie." -@VanJones68 pic.twitter.com/t7vQ4BfTh9
— jordan (@JordanUhl) February 12, 2020
Der Grund, weshalb Sanders so stiefmütterlich behandelt wird, ist seine politische Ausrichtung. Der 78-Jährige bezeichnet sich selber als «demokratischer Sozialist» und politisiert am linken Rand der demokratischen Partei. Kritiker finden seine Position zu extrem.
Doch wie links ist Bernie Sanders wirklich? Ist er gar ein Kommunist, wie es ihm viele vorwerfen? «Nein», meint Claude Longchamp, der die Vorwahlen in den USA genau mitverfolgt. «Das ist nur Propaganda. Bernie Sanders wäre in der Schweiz zweifelsfrei in der SP.»
Das Wertesystem in den USA sei viel weiter rechts als etwa in der Schweiz, so der Politologe zu watson. Das Spektrum bei der demokratischen Partei sei sehr gross. «Barack Obama wäre wahrscheinlich im linken Flügel der FDP anzuordnen oder bei der GLP.»
Bernie Sanders habe ein sozialdemokratisches Programm, so Longchamp weiter. «Er setzt auf einen Basiswahlkampf und zählt vor allem auf die jüngere Generation.» Eine ähnliche Strategie habe er etwa beim Ständeratswahlkampf von Cédric Wermuth beobachten können, der ja gute Aussichten habe zusammen mit Mattea Meyer das Präsidium der SP zu übernehmen. «Von dem her würde er perfekt dorthin passen.»
Die klare Positionierung habe für Sanders im Vorwahlkampf Vorteile. Er könne sich so von den anderen Kandidaten abgrenzen, welche sich die Stimmen aufteilen würden, erklärt Longchamp. Dennoch bleibt der Politologe betreffend der Erfolgssaussichten von Sanders skeptisch.
«Es ist durchaus möglich, dass er am Ende die meisten Stimmen im Land sammelt, aber trotzdem nicht nominiert wird.» Grund dafür ist das komplizierte Verfahren mit Delegierten und Superdelegierten. Diese küren am Parteikonvent Mitte Juli ihren Kandidaten für das Rennen gegen Donald Trump.
Longchamp vermutet, dass das Partei-Establishment mit den Delegierten eingreifen und einen moderateren Kandidaten bevorzugen wird. Natürlich sei auch ein Durchmarsch von Sanders nicht unmöglich, so Longchamp. «Es wäre aber etwa gleich überraschend wie die Nomination Trumps, der sich 2016 gegen das republikanische Partei-Establishment durchsetzte.»
Sanders hat im Vergleich zu den moderaten Kandidaten wie Amy Klobuchar, Pete Buttigeig oder Joe Biden einen grossen Nachteil. Diesen kann er nur aufholen, wenn er die Vorwahlen mit einem derart grossen Vorsprung gewinnt, dass die eigene Partei gar nicht mehr anders kann, als ihn zu nominieren.
Dies enstpricht selbstredend nicht dem Prinzip von «one man, one vote», «ein Mann, eine Stimme». Longchamp stellt der US-Demokratie denn auch ein schlechtes Zeugnis aus. «Vordergründig sieht das alles schön aus», sagt der Politologe. «Aber das System ist höchst fragwürdig. Das ist nicht sauber.»
Das sei nicht erst seit dem Vorwahl-Debakel in Iowa bekannt. Longchamp zählt etwa die willkürlichen Wahlkreisverschiebungen, das «Gerrymandering», auf. Oder der mühselige Registrierungsprozess, den die Wählenden zuerst durchlaufen müssen, bevor sie an die Urne dürfen.
«Die USA sind in Sachen Demokratie ein Entwicklungsland», lautet das harte Verdikt von Longchamp. Dieser Umstand könnte Bernie Sanders zum Verhängnis werden, obschon seine dezidiert linke Politik bei den Wählenden anzukommen scheint.
Er ist der unabhängigste Kandidat, weil seine Bewegung von vielen einfachen Bürgern getragen und finanziert wird.
Nicht zuletzt spricht er trotz seines Alters viele Junge an und verbindet gleichzeitig Generationen, weil er die Anliegen vieler vertritt.
Er ist im positivsten, besten Sinne eine Vater – oder vielmehr – Grossvaterfigur mit einem vitalen, brennenden Geist. Ein weiser und durchsetzungsstarker Häuptling.
Sanders hat nichts mehr zu verlieren – es ist seine letzte Lebensaufgabe.