Die Strafverteidigerin mit dem schwierigsten Job 2018 ist Renate Senn. Sie hat sich für die Rechte des meistgehassten Mannes der Schweiz eingesetzt: Thomas N., der Vierfachmörder von Rupperswil. Senn hat sich die Aufgabe nicht ausgesucht. Als amtliche Verteidigerin wird sie von der Staatsanwaltschaft aufgeboten, wenn ein Täter mit schweren Vorwürfen konfrontiert wird und sich keinen eigenen Anwalt leisten kann. Dadurch soll ein Grundsatz des Rechtsstaates garantiert werden: ein faires Verfahren.
Der Fall Rupperswil ist in der Schweizer Kriminalgeschichte einzigartig. Entsprechend aufwendig ist die Verteidigung. Die Anwältin muss sich in komplizierte Fragen des Massnahmenrechts einarbeiten und mit einem Täter kommunizieren, der neben ihr nur noch seine Mutter als Ansprechperson hat.
Wie viel Aufwand ist diese Aufgabe dem Staat wert? Das Aargauer Obergericht gibt die Antwort für den Berufungsprozess. Es entschädigt die Verteidigerin im Umfang von drei Tagen Arbeit. Dabei hatte sie für den zweiten Prozess eine ganze Woche investiert. Den Rest hat sie nun gratis gearbeitet. Das geht aus dem schriftlichen Urteil hervor.
Das Obergericht bezeichnet Senns Kostennote für den zweiten Prozess als «deutlich überhöht». Denn mit dem Thema sei sie bereits durch den ersten Prozess «bestens vertraut». Die Richter führen nicht aus, wo Senn konkret zu viel Geld verlangt habe. Stattdessen erstellen sie eine eigene Rechnung, die ihnen für den Fall als angemessen erscheint. Das Resultat: 27 statt 46 Stunden. Zum Beispiel genüge es, mit dem Täter nur drei Stunden zu sprechen.
Es ist bereits die zweite Honorarkürzung im Fall Rupperswil. Das Lenzburger Bezirksgericht hatte den von Senn in Rechnung gestellten Aufwand für den erstinstanzlichen Prozess ebenfalls zusammengestrichen. Damals hatte sie zum Beispiel zehn Stunden verrechnet, um mit der Mutter des Mörders zu telefonieren. Das gehöre nicht zum notwendigen Aufwand einer amtlichen Verteidigung, entschied das Gericht.
Anstatt einzelne Positionen der Rechnung zu korrigieren, strich es Senns Entschädigung für die Teilnahme an der viertägigen Gerichtsverhandlung. Die Honorarkürzungen führen zu einem Aufschrei unter Schweizer Strafverteidigern. Sie sehen im Umgang des Gerichts mit der Kollegin ein grundsätzliches Problem. Senn selber will sich auf Anfrage nicht äussern.
Thomas Fingerhuth ist ein Zürcher Anwalt, der sich mit brutalen Tätern auskennt. Er hat die Kindermörderin von Horgen und den Doppelmörder von Pfäffikon verteidigt und sagt: «Diese Honorarkürzung ist ein Skandal.» Indem das Gericht eine eigene Rechnung erstelle, schreibe es der Verteidigung vor, wie viel Aufwand sie betreiben solle: «Damit stellt es deren Unabhängigkeit infrage.»
In Kantonen, in denen derartige Honorarkürzungen üblich seien, habe ein amtlicher Verteidiger nicht die gleichen Möglichkeiten wie ein privater. Das führe zu einer «Zwei-Klassen-Justiz». Nur wer es sich leisten könne, werde angemessen verteidigt. Zur erstinstanzlichen Honorarkürzung sagt er: «Die Verteidigerin hat an der Hauptverhandlung teilgenommen und ihr Plädoyer gehalten. Indem das Gericht ihr das Honorar dafür pauschal streicht, bringt es zum Ausdruck, dass ihm ihre Arbeit nichts wert ist.»
Lorenz Erni ist ein Zürcher Anwalt, der sich normalerweise nicht in den Medien äussert. Er ist der Verteidiger, den grosse Männer holen, wenn sie in juristische Schwierigkeiten geraten: Roman Polanski, Sepp Blatter oder Pierin Vincenz. Für diese Herren ist die Honorarrechnung das kleinste Problem.
Dennoch beschäftigt es Erni, wie das Gericht mit seiner Aargauer Kollegin umgeht. Er hat die Begründung studiert und sagt, er könne nicht erkennen, weshalb ein Aufwand von 46 Stunden überhöht sein solle: «Wie will das Gericht beurteilen können, dass bloss drei Stunden Besprechungen mit dem Mandanten notwendig waren?» Zudem benötige schon nur das Studium des erstinstanzlichen Urteils – es umfasst 161 Seiten – viel Zeit.
Bruno Steiner hat in seiner Karriere drei Rollen im Gerichtssaal ausgeübt. Er war Ankläger, dann Richter, jetzt ist er Verteidiger. Der 70-Jährige sitzt in seinem Büro unter einem ausgestopften Wildschweinkopf, trägt Crocs-Schuhe mit Totenköpfen und sagt, der Fall Rupperswil sei in seiner Grausamkeit und Perversion einzigartig: «Der Umgang mit einem Täter, der zum grössten Unmenschen der Schweiz erklärt wurde, ist sehr aufwendig. Es ist unrealistisch, diesen sehr speziellen Berufungsprozess in nur drei Stunden zu besprechen.»
Der Solothurner Anwalt Konrad Jeker dreht das Argument um: «Einer Verteidigerin, die für die Beratung ihres Klienten in einem derart bedeutenden Fall lediglich drei Stunden aufwendet, müsste man vielmehr vorwerfen, dass sie ihre gesetzlichen Berufspflichten schwer verletzt.» Er tritt in mehreren Kantonen vor Gericht auf. Nicht nur das Aargauer Obergericht würde die Honorare «ungerechtfertigt» kürzen. Es habe sich aber den Ruf erworben, «besonders rigide» vorzugehen und sich dafür bei der Präsentation der Jahresrechnung «politisch feiern zu lassen».
So hebt der Kanton im neusten Jahresbericht die Einsparungen bei den amtlichen Honoraren als positiven Budgeteffekt hervor. Anwälte sehen eine Tendenz. Die Gerichte würden vermehrt derartige Budgetziele verfolgen. Jeker wirft den Gerichten vor, die Mittel ungleichmässig zu kürzen. Sie würden nicht bei sich selbst oder bei der Strafverfolgung sparen, sondern nur bei den Pflichtverteidigern. Sie würden «darauf getrimmt», ihren Auftrag im Wissen um die Kürzung ihres Honorars «nur noch scheinbar zu erfüllen».
Die Schwierigkeit für die Richter ist: Wie können sie feststellen, wenn ein Verteidiger tatsächlich eine überhöhte Rechnung stellt? Manchmal ist das schlicht nicht möglich. Niklaus Ruckstuhl ist Verteidiger und Titularprofessor in Strafprozessrecht der Universität Basel. Er sagt, die Verteidigung könne nicht immer alle Bemühungen offenlegen, wenn sie das Anwaltsgeheimnis nicht verletzen wolle. Er macht ein Beispiel: Ein Klient verlange von ihm, dass er ein Geständnis schreibe. Doch dann wolle der Klient dieses doch nicht einreichen. Die acht Stunden, die er als Verteidiger dafür aufgewendet habe, könne er dem Gericht danach nicht kommunizieren.
Zum Job des Verteidigers gehört es zudem manchmal, einen Teil des Hasses einzustecken, der sich eigentlich gegen den Klienten richtet. Im Fall Rupperswil war dieser Hass so gross, dass Renate Senn mehr als nur ein paar Spritzer davon abkriegte. Die jüngste Attacke: Hacker haben ihre Kanzlei-Website beschädigt. Auch diese Kosten muss die amtliche Verteidigerin selber tragen. (aargauerzeitung.ch)