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Chatprotokolle zeigen, wie der Fall Céline eskalierte

celine pfister brachte sich nach cybermobbing im alter von 13 um
Die 13-jährige Céline nahm sich im Spätsommer 2017 das Leben. Bild: zvg

«Ich mache dir dein Leben kaputt»: Chatprotokolle zeigen, wie der Fall Céline eskalierte

Céline nahm sich mit 13 Jahren das Leben, nachdem sie auf Social Media blossgestellt worden war. Das Mädchen aus Spreitenbach gehörte zur ersten Generation mit Smartphones im Kinderzimmer. Die Justiz versucht, die neuen Probleme mit alten Massnahmen in den Griff zu kriegen.
14.02.2020, 06:4215.02.2020, 18:57
Andreas Maurer / Ch media
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Céline, 13, und Isabella*, 16, wohnen in benachbarten Gemeinden, in Spreitenbach AG und Dietikon ZH. Kennen gelernt haben sie sich aber im Internet, auf Instagram. Zwischen den unterschiedlichen Charakteren entsteht zuerst eine Freundschaft, später eine Feindschaft.

Isabella will die Derbe sein, sie inszeniert sich als Mafiabraut, so nennt sie sich selber auf Instagram. Sie definiert sich über ihre Sexualität, ihre aufgespritzten Lippen und ihre Oberweite.

Céline will die Perfekte sein, sie sorgt sich um jede ihrer Locken und strebt in der Schule und im Tanzen nach Bestleistungen. Sie weiss schon mit 13, dass sie später Jus studieren will.

Die Eltern Candid und Nadya Pfister. Céline war ihr einziges Kind.
Die Eltern Candid und Nadya Pfister. Céline war ihr einziges Kind.Bild: ch media/sandra ardizzone

Der Streit beginnt wegen eines Jungen: Rinaldo*, 14, aus Dietikon. Zuerst hat er eine Affäre mit Isabella, dann mit Céline. Er hat in der Szene den Ruf eines «Fuck Boy», da er nur an Sex interessiert ist. Auf dem Smartphone des 14-Jährigen werden die Ermittler später Pornografie finden.

Céline wird von allen gewarnt. «Lass dich nicht auf den ein», sagt man ihr. Dennoch verliebt sie sich. So beginnt die Geschichte einer unerwiderten Liebe und so endet die Freundschaft mit Isabella, welche die neue Affäre ihres Ex nicht toleriert.

Drei Monate vor Célines Tod beginnt Isabella, ihre ehemalige Kollegin auf Snapchat zu beleidigen. Auf dieser Social-Media-Plattform sieht man die Beiträge jeweils nur für ein paar Sekunden. Die Flüchtigkeit des Mediums senkt die Hemmschwelle für Grenzüberschreitungen.

«Ich war im Jugendknast, aber jetzt bin ich wieder draussen»

Céline stellt Isabella in einem Chat zur Rede. Normalerweise werden auch diese Nachrichten automatisch gelöscht, doch Céline fotografiert den Verlauf mit ihrem zweiten Handy. So kommt es, dass er später zu einem Teil der Untersuchungsakten wird.

Céline: du postisch wüki jedi nachricht und jede snap wo ich post? findsch nöd chli schad dass dini story mit mir überfüllsch so für nüt?

Isabella: Meitli du muesh froh sii ich gib der eh chance dass menshe wüsset wer du bish!!! Da du en nüt bish und keine dich beachtet ishes ja guet will ufmerksamkeit das wetsh ja! Ob guete oder shlechte das chash leider ned entsheide

Céline: isch es für dich soooo lustig alles was ich mache zkommentiere und zrepos­te oder zbeurteile? das isch ziemlich chindisch was jz abziehsch

Isabella: Jöö die 13 jährigi seit zu de fasht 17 jährigi chindish lmao

Céline: du bisch 17 verhaltisch dich aber defür ziemlich chindischwieso musch dich uf anderi konzentriere

Isabella: Sry bin jugendknasht ksi jez bin ich aber wieder usse ;) wart bis ich dich ksehn

Céline: Isabella jz ernst mir het öpper vo dinere schuel früener grad gschriebe und mir gseit wie du ghasst worde bisch aber ich poste es nöd? Hätti gnueg sache woni poste chönnt würkli

Isabella: MACH BITTE HAHAHAHAPOSHTE SACHE ÜBER MICH

Céline: nei wills nöd wert bisch

Isabella: du hesh eppis kmachtdu hesh rinaldo ahgfasst. neiso ume­gmacht. und er wet nüt vo dier. er seit selber du bish hässlich

Die Eltern Candid und Nadya Pfister. Céline war ihr einziges Kind.
Die Tätowierungen von Candid und Nadya Pfister: Der Pfeil steht für das verlorene Leben. Der Löwe steht für das verbliebene Leben, den Kampf gegen Cybermobbing.Bild: ch media/sandra ardizzone

Céline erhält mit zehn Jahren ihr erstes Handy, mit elf ihr erstes iPhone. Sie gehört zur ersten Generation mit Smartphones im Kinderzimmer.

Gemäss der neusten Pisa-Studie fühlen sich in keinem anderen Land Europas mehr Schüler von Mobbing betroffen als in der Schweiz. Viele Belästigungen finden online statt. Jeder fünfte Jugendliche gibt an, selber bereits einmal Opfer von Cybermobbing geworden zu sein.

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Cybermobbing ist besonders verletzend, weil es vor einem grösseren Publikum stattfindet als herkömmliches Mobbing. Isabella verbreitet abschätzige Beiträge über Céline, die von Hunderten Jugendlichen gesehen werden. Der Streit verfolgt das Opfer bis unter die Bettdecke. Auf dem Bildschirm erscheinen immer neue Nachrichten. Wenn sie ihn ausschaltet, beginnt der nächste Tag wieder damit.

Im Monat vor Célines Tod verschärft Isabella den Tonfall. Die Staatsanwaltschaft protokolliert ihre Chatnachrichten an Céline:

i chum zwar ghlosseni wenn ich no 1 mal epper körperlich verletz aber das ishes mir wert. körperverletzig ish au eine vo de gründ und glaaauuuubb mer ich han kei angsht vo gshlosseni oder jugendknasht und wür dich eigenhändig umbringe also pass uf was du machsh. ich han ned grundlos probleme mit bulle

aber ehy kopf hoch du bish ned die einzigi wo vo mier kassiert het. kopf wieder abe ich brich der din hals dass din hals ned­emal ufe gah chan

es wird weishwie umeverzellt haha. Soeh armi mit minem ex? Oh nonono... ich mach der dis lebe so chabbut

Isabella ist bei der Polizei tatsächlich schon zu diesem Zeitpunkt einschlägig bekannt. Sie wird in verschiedenen Jugendeinrichtungen platziert. Doch ihr Verhalten ändert sie nicht.

Céline hat viele Follower, aber keine beste Freundin, auf die sie sich verlassen kann. Sie hat allerdings mehrere Kolleginnen, mit denen sie sich über ihre Probleme austauschen kann. Sie leitet ihnen einige der erhaltenen Hassbotschaften weiter. Sie ist mit ihren Sorgen also nicht ganz allein.

Die Eltern Candid und Nadya Pfister. Céline war ihr einziges Kind.
Die Eltern von Céline. Die Teddybären im Hintergrund haben Unbekannte auf das Grab gelegt. Das Sofa ist ihr Winterquartier.Bild: ch media/sandra ardizzone

Rinaldo nutzt den Streit aus

Auch ihrer Mutter vertraut sie einen Teil ihrer Probleme an. Sie diskutieren darüber, psychologische Hilfe zu holen. Doch Céline wehrt sich dagegen. Schliesslich einigen sie sich, die Sommerferien abzuwarten.

Nach den Ferien wird aber plötzlich alles noch schlimmer. Jetzt nützt Rinaldo den Streit aus, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Er setzt Céline unter Druck, dass sie ihm erotische Fotos von sich schickt. Sonst werde er Bilder, die er schon von ihr habe, an Isabella weiterleiten. Schliesslich willigt Céline ein. Das Selfie, das sie ihm schickt, ist kein pornografisches, aber ein intimes. Leichtbekleidet sitzt sie auf ihrem Bett und gibt den Blick auf ihren Ausschnitt frei.

Rinaldo leitet das Foto an Isabella weiter, als Céline eine seiner sexuellen Avancen ablehnt und es deshalb zum Streit kommt. Isabella verbreitet das Bild auf Snapchat und macht sich über Célines Brüste lustig.

Céline ist mit einer Kollegin im Shoppingcenter Tivoli, als sie ihre eigene Aufnahme auf ihrem iPhone aufleuchten sieht. Sie rennt aufs WC. Die Kollegin schreibt Isabella, sie solle das Bild sofort löschen. Diese lenkt ein, doch es ist zu spät. Rund 500 Leute sehen das Foto.

Später treffen Céline und Isabella an der Chilbi der Badenfahrt aufeinander. Isabella lacht Céline vor ihren Kolleginnen aus, weil sie im Gegensatz zu ihr keinen Sex mit Rinaldo hatte.

Zwei Tage später begeht Céline Suizid. Das letzte Foto auf ihrem Handy enthält folgende Songzeilen der Popsängerin Lana Del Rey:

Gott weiss, dass ich geliebt habe
Gott weiss, dass ich verloren habe
Gott weiss, dass ich es versucht habe

Die Eltern Candid und Nadya Pfister. Céline war ihr einziges Kind.
Candid Pfister mit dem Bild seiner verstorbenen Tochter Céline.Bild: ch media/sandra ardizzone

Die Staatsanwaltschaft benötigt mehr als ein Jahr, um den Fall aufzuarbeiten. Sie hat Mühe, an die Daten auf den Handys zu kommen. Erst mit der Hilfe von Spezialisten der Bundespolizei kann sie diese knacken.

Das Verfahren zieht sich zusätzlich in die Länge, weil die Behörde aus der Dreiecksbeziehung zwei Verfahren macht. Isabella und Rinaldo werden schliesslich zu kurzen Arbeitseinsätzen verurteilt.

Worum es sich handelt, hält die Justiz geheim. Recherchen zeigen, dass Isabella ein paar Tage Büroarbeiten auf der Jugendanwaltschaft erledigen musste. Dieser Fall ist rechtskräftig abgeschlossen. Rinaldo hingegen muss sich am 26. Februar vor Gericht verantworten, weil Célines Eltern den Strafbefehl angefochten haben.

Die Täterin wird selber zum Opfer und denkt an Suizid

Es ist der erste bekannte Fall von ­Cybermobbing in der Schweiz, der auf derart tragische Weise geendet hat. In Schulen wird er seither im Präventionsunterricht thematisiert.

In einem Polizeirapport heisst es allerdings, die Ermittlungen hätten nicht klären können, ob das Cybermobbing einen Einfluss auf den Entscheid zum Suizid hatten. Eindeutige Hinweise wie ein Abschiedsbrief fehlten.

In den sozialen Netzwerken ist die Deutung aber gemacht: Isabella wird für den Suizid verantwortlich gemacht. Sie wird überhäuft mit Todesdrohungen und entwickelt selber Suizidgedanken. Am Tag nach Célines Tod wird sie notfallmässig in die Psychiatrie eingewiesen. Ihr Verhalten ändert sie aber auch diesmal nicht.

Aus der Psychiatrie droht sie einer anderen Jugendlichen per Video: «Du wirst genauso sterben wie Céline!» Eine Parodie davon wird in einem Kanal geteilt, der von 28000 Leuten verfolgt wird. Ein Shitstorm bricht über Isabella herein. Sie wird erneut in die Psychiatrie eingewiesen. Bis heute hat sie ihr Leben nicht im Griff. Per Whats-App teilt die inzwischen 19-Jährige mit:

Ich bin keine Mörderin, aber ich werde so dargestellt. Es war ein Kinderstreit. Die Leute zeigen mit dem Finger auf mich, obwohl sie ähnliche Konflikte hatten. Ich war nicht die Einzige, die sie gemobbt hat. Dar­über spricht aber niemand. Ich habe Wörter benutzt, die ich sehr bereue. Es tut mir Leid. Ich hoffe, dass dies der letzte Zeitungsartikel über mich ist und ich endlich mein Leben normal starten kann.

* Namen der Redaktion bekannt

Lass dir helfen!

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In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen da sind – vertraulich und kostenlos.

Die Dargebotene Hand: Tel 143, www.143.ch
Beratung + Hilfe 147 für Jugendliche: Tel 147, www.147.ch
Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch

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140 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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so wie so
14.02.2020 07:00registriert Juli 2015
Mich macht es traurig, wie viele Kinder unter solchem Psychoterror leiden. Bei den allermeisten werden wir es nie erfahren, da sie zum Glück keinen Suizid begehen. In meiner Jugend ging es teilweise auch sehr derbe zu und her, jedoch gab es noch keine sozialen Plattformen. Es war jeweils nur "eine kleine Welt" in der es Probleme gab. Ich weiss nicht, ob ich meine Jugend in der heutigen Zeit überstehen würde.
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Domimar
14.02.2020 07:19registriert August 2016
Meine Güte, beim Lesen stellte ich mir ständig die Frage, wie krank ist das denn. Wie viel davon darf man auf das junge Alter schieben und wie viel davon auf einen schlechten Charakter. Da war es in meiner Jugend ohne Handy und dergleichen wirklich einfacher.
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[Nickname]
14.02.2020 06:52registriert September 2019
Bin schon froh kamen bei uns Internetfähige Handys erst in der Berufsschule auf. Heute herrscht das Mobbing 24/7 nicht nur in der Schule.
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