Wer im Kalten Krieg aufwuchs, hat die Gefahr eines Atomkriegs als stete und unheimliche, weil kaum fassbare Bedrohung erlebt. Mehrfach war die Menschheit knapp an ihrer Vernichtung vorbeigeschrammt, am offensichtlichsten während der Kuba-Krise im Oktober 1962. Andere Fälle wurden erst Jahre später bekannt, doch letztlich hatten wir nur mit viel Glück überlebt.
Mit dem Einzug von Donald Trump ins Weisse Haus ist die Bedrohung zurückgekehrt. Sein Vorgänger Barack Obama hatte noch die Vision einer atomwaffenfreien Welt entwickelt. Trump schwingt ungeniert die Nuklearkeule, erst im Umgang mit Nordkoreas Diktator Kim Jong Un. Das Gipfeltreffen der beiden Superegos in Singapur hat die Lage entschärft, zumindest vorläufig.
Dafür hat Trump nun den alten Feind Russland reaktiviert. Er kündigte am Samstag an, die USA würden aus dem INF-Vertrag aussteigen, der 1987 mit der damaligen Sowjetunion vereinbart worden war. Er verbietet den Bau und Besitz von atomar bewaffneten Mittelstreckenraketen. Am Montag legte der Präsident nach, indem er mit einem neuen Rüstungswettlauf drohte.
Für uns Kinder des Kalten Krieges kehrt ein Szenario zurück, das überwunden schien. In den 1970er Jahren hatte die Sowjetunion mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 begonnen, die mit Atomsprengköpfen bestückt und auf Europa gerichtet waren. Als Gegenmassnahme kam es im Dezember 1979 zum so genannten NATO-Doppelbeschluss.
Die westliche Verteidigungsallianz sah einerseits die Stationierung von amerikanischen Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles in Europa vor, um das «Gleichgewicht des Schreckens» wiederherzustellen. Im Gegenzug verlangte der Doppelbeschluss die Aufnahme von Verhandlungen zur Begrenzung der atomaren Mittelstreckenraketen (Intermediate Nuclear Force, abgekürzt INF).
Mit dem zweiten Teil harzte es jedoch, seit der Republikaner Ronald Reagan die US-Präsidentschaftswahl 1980 gewonnen hatte. Der ehemalige Hollywood-Schauspieler war ein Kalter Krieger und «Kommunistenfresser». Bald kursierten Berichte, wonach im Verteidigungsministerium Pläne für einen auf Europa begrenzten Atomkrieg gegen die Sowjetunion entworfen wurden.
Das Pentagon versuchte zu beschwichtigen, doch heute gilt es als gesichert, dass solche Ideen zumindest auf dem Papier existierten. Sie wurden nicht weiterverfolgt, weil eine Eskalation auf globaler Ebene kaum zu vermeiden gewesen wäre. Dennoch warb ein US-Reiseveranstalter damals mit dem Slogan «Besuchen Sie Europa, solange es noch steht».
Der NATO-Doppelbeschluss und Reagans Einzug ins Weisse Haus gaben der Friedensbewegung Auftrieb, die seit dem Vietnamkrieg ziemlich eingeschlafen war. Vor allem in Deutschland, dem Hauptschauplatz eines begrenzten nuklearen Schlagabtauschs, gingen die Menschen auf die Strasse, um gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen in Europa zu protestieren.
Höhepunkt war eine Grosskundgebung in der damaligen Hauptstadt Bonn am 10. Oktober 1981 mit rund 350'000 Teilnehmern. Hauptredner war der Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) aber hielt eisern am NATO-Doppelbeschluss fest. Den Kritikern in seiner Partei drohte er mit Rücktritt.
Die Friedensbewegung machte auch in der Schweiz mobil. Am 3. Dezember 1981 demonstrierten mehr als 30'000 Personen auf dem Bundesplatz in Bern. Irritierend waren allerdings Forderungen wie ein atomwaffenfreies Europa von Polen bis Portugal. Ausgerechnet die Sowjetunion wurde ausgenommen. Die Friedensbewegung war deswegen nicht von Moskau gesteuert, wie bürgerliche Politiker behaupteten, aber zumindest auf dem linken Auge ziemlich blind.
Die Proteste gingen bis 1983 weiter. Am Ende waren sie vergeblich, die US-Atomraketen wurden aufgestellt. Mit dem zweiten Teil des Doppelbeschlusses aber ging es ebenfalls vorwärts, seit 1985 mit Michail Gorbatschow ein relativ junger Reformer in Moskau an die Macht gekommen war. Er wollte die rückständige Sowjetunion modernisieren. Der Rüstungswettlauf mit den USA war da ein Hindernis.
Im November 1985 kam es zum denkwürdigen ersten Gipfeltreffen mit Ronald Reagan in Genf. Es verlief ohne Ergebnis, doch der US-Präsident erkannte die Chance, mit Gorbatschow einen Deal zu machen. Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten sie in Washington den INF-Vertrag zum Abbau aller atomar bestückten landgestützten Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.
Der Vertrag war ein Meilenstein. Für uns beseitigte er die akuteste Bedrohung Europas. Bis 1991 wurden die Raketen verschrottet. Zwischenzeitlich war auch der Kalte Krieg zu Ende und die Sowjetunion untergegangen. Das Gespenst des Atomkriegs schien gebannt. Dabei besassen die USA und Russland noch immer ein beträchtliches Arsenal an Atomwaffen.
Der INF-Vertrag ist auch nicht erst seit Donald Trump unter Druck. Russland drohte wegen der Stationierung eines US-Raketenabwehrsystems in Osteuropa mit der Kündigung. Gleiches tat die Regierung Obama, als sie Moskau 2014 vorwarf, unerlaubt eine landgestützte Mittelstreckenrakete getestet zu haben. Und da wäre noch China, das in den 80er Jahren nicht auf dem Radar war.
Die Chinesen besitzen heute entsprechende Raketen, die US-Militärstützpunkte im Pazifik erreichen können. Donald Trump hat also nicht ganz Unrecht, wenn er Vorwürfe an die Adresse Pekings richtet. Auch die Russen sind keine Unschuldslämmer. Die Europäer, allen voran die Deutschen, aber reagieren nervös auf die mögliche Kündigung des INF-Vertrags.
Trumps Sicherheitsberater, der Hardliner John Bolton, erklärte sich am Montag nach Gesprächen in Moskau immerhin zu neuen Verhandlungen bereit. Auch Trump sagte, er sei zur Abrüstung bereit, wenn die anderen Staaten «zur Vernunft kommen». Die Amerikaner wollen ihre NATO-Partner noch diese Woche offiziell über ihre Pläne informieren.
Vielleicht wird die Suppe nicht so heiss gegessen, wie sie gekocht wird. Dennoch ist die nukleare Bedrohung nicht nur weit weg in Fernost, sondern auch in Europa wieder zur Realität geworden. Für uns Kinder des Kalten Kriegs ist das ein Film, den wir nicht mehr sehen wollten.