Anna Gabriel war für Mittwoch zum Verhör vorgeladen. Die Katalanin müsste ihre separatistische Politik vor dem Bundesstrafgericht (Tribunal Supremo) in Madrid rechtfertigen. Vorgeworfen wird ihr Rebellion, weil sie eine der treibenden Kräfte ist hinter dem katalanischen Unabhängigkeitsprozess, der am 10. Oktober 2017 in der einseitigen Unabhängigkeitserklärung gipfelte. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu 30 Jahre Haft.
Doch Gabriel war nicht vor Gericht erscheinen. Sie ist nach Genf geflüchtet. Das spanische Bundesstrafgericht hat deshalb am Mittwoch die Festnahme der Katalanin angeordnet. Die Schweiz wird Gabriel voraussichtlich nicht an Spanien ausliefern, wie Folco Galli, Informationschef des Bundesamts für Justiz, am Mittwoch auf Anfrage sagt.
Wenn das Verfahren gegen die Separatistenführerin politischer Natur sei, «könne die Schweiz nicht auf ein mögliches Auslieferungsersuchen reagieren». Galli fügte jedoch hinzu, dass das EJPD den Fall eingehender prüfen werde, wenn ein Auslieferungsgesuche eingegangen sei. Der Machtkampf zwischen den katalanischen Separatisten und dem spanischen Zentralstaat hat die Schweiz erreicht.
Gestern meldete sich Gabriel zu Wort: «Nicht wir sollten vor Gericht stehen, sondern der spanische Staat und die tiefe Qualität seiner Demokratie.» Vor den Kameras des Westschweizer Fernsehens RTS wirkte sie ruhig und sprach leise auf Französisch. Normalerweise spricht sie laut und Katalanisch.
Gabriel ist das Gesicht der antikapitalistischen Gruppe Candidatura per l’Unitat Popular (Kandidatur für die Volkseinheit, CUP). Die CUP ist die radikalste Kraft der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Kleinstpartei, die ihre Basis in separatistischen Dörfern und an Universitäten hat, verlor bei den von Madrid anberaumten kurzfristigen Neuwahlen im Dezember 6 ihrer 10 Sitze. Trotzdem ist sie mächtig, denn sie verhilft den Separatisten um Carles Puigdemont zu einer knappen Mehrheit im Parlament.
Gabriel ist die meistgehasste Separatistin Kataloniens. Denn die 42-Jährige ist nicht nur für die Abspaltung Kataloniens, sondern auch für die Errichtung einer sozialistischen Republik der katalanischen Länder, welche neben der Region Katalonien auch Valencia und die Balearen umfasst.
Sie ist zudem eine Art Sahra Wagenknecht der katalanischen Linken, nur dass sie nicht nur inhaltlich gegen den Kapitalismus agitiert, wie ihr deutsches Pendant, sondern auch äusserlich alle Klischees einer linksalternativen Separatistin erfüllt. Im katalanischen Parlament trat sie jeweils mit T-Shirts mit feministischen Parolen oder Slogans wie «Sonne, Paella, Sozialismus» auf. Bei anderen Abgeordneten würden die textilen Parolen Aufsehen erregen, bei Gabriel sind es einfach ihre Alltagskleider. Ihren Anhängern in den Jugendzentren der separatistischen Bewegung signalisiert sie damit: Ich bin immer noch eine von euch, auch wenn ich im Parlament sitze. Dies tat die Lehrerin und Jus-Dozentin seit 2015.
Gabriel wird im Netz wie keine Zweite diffamiert. Ihr Äusseres ist Thema von oft sexistischen Kommentaren. Ihre schwarzen Fransen fallen ihr ins Gesicht, dazu trägt sie grosse Ohrringe. Es ist ein Stil, wie er im Baskenland verbreitet ist.
Als Gabriel mit 16 ihre politische Karriere in der antifaschistischen Bewegung startete, galten die baskischen Separatisten als Vorbilder. Die katalanische Jugend pilgerte lange an die Dorffeste der Basken und schwärmte manchmal sogar für die Kämpfer der ETA. Die Katalanen sind nun die erfolgreicheren Separatisten. Auch weil sie aus den Fehlern der Basken gelernt haben und gewaltfrei kämpfen. Trotzdem sitzen zurzeit vier Politiker in Untersuchungshaft. Weitere sind nur unter Auflagen frei. Nach Auffassung der spanischen Regierung und der Gerichte war das Referendum vom 1. Oktober 2017 illegal.
In Genf ist Gabriel erst einmal sicher. Ob sie Asyl beantragt, ist noch unklar. Aber auch sonst dürfte eine Auslieferung kompliziert werden. Denn Rebellion ist in der Schweiz kein Straftatbestand. Zudem ist fraglich, ob Spanien überhaupt einen internationalen Haftbefehl ausstellt. Im Falle von Carles Puigdemont wurde der wieder zurückgezogen. (aargauerzeitung.ch)