Schweiz
UserInput

Fast 30'000 Mal geteilt: Darum geht ein drei Jahre alter Leserbrief mit Falschinformationen über Asylbewerber viral – und das sagt die Autorin dazu

Fast 30'000 Mal geteilt: Darum geht ein drei Jahre alter Leserbrief mit Falschinformationen über Asylbewerber viral – und das sagt die Autorin dazu

Bereits 29'000 Mal wurde der Leserbrief der Pensionärin Elsbeth Kälin auf Facebook geteilt. Und er wird es immer noch – seit mehr als einem Jahr. Dabei ist der Text fast drei Jahre alt und das, was drinsteht, kompletter Unsinn. 
08.06.2015, 17:4409.06.2015, 14:25
Daria Wild
Folge mir
Mehr «Schweiz»

«Hätten Sie es gewusst?» – so beginnt der Leserbrief der Pensionärin Elsbeth Kälin, ursprünglich erschienen im Lokalblatt «Marchanzeiger». Es ist ein Pamphlet gegen die Sozialhilfebeiträge für Asylbewerber, die gemäss Kälin fast gleich viel Geld zu Verfügung hätten wie Pensionäre. Kälin rechnet vor und kommt zum Schluss: «Diese Sozialhilfe für Asylanten ist eine Ohrfeige für alle Rentnerinnen und Rentner.» 

Doch Kälin rechnet falsch. Der Betrag, auf den sie sich bezieht, ist eine Pauschale an die Kantone pro Asylbewerber und kein Sackgeld. Kleider kriegen Asylbewerber genauso wenig geschenkt wie die Zahnreinigung – der Vergleich mit den AHV-Beträgen ist an den Haaren herbeigezogen.

Bild
Bild: facebook

Viel Empörung, wenig Kritik

Trotz Kälins Fehlinformation verbreitet sich der Brief ohne Ende. 2013 hält er Einzug in die Blogspalte der «Berner Zeitung», wird in einem Leserbrief der Südostschweiz zitiert, im FCZ-Forum besprochen und landet im Januar 2014 schliesslich – eineinhalb Jahre nach der Veröffentlichung im «Marchanzeiger» – auf Facebook. Dort dreht die virale Maschine: 29'000 Menschen teilen das Foto, das Facebook-User Christian S.* auf seiner Chronik gepostet hat.

Ihm wurde das Foto irgendwann von einem Freund zugeschickt, sagt S. auf Anfrage. Mit Kälin hat er nichts am Hut, aber ihre Wutschrift trifft bei ihm einen Nerv. Und auch bei seiner Facebook-Community ist die Empörung ob der von Kälin genannten, falschen Zahlen, gross. Nur ein kleiner Teil äussert sich kritisch. Ein User schreibt unter den Post: «Die falschen Behauptungen dieser Elsbeth Kälin werden nicht plötzlich zur Wahrheit, nur weil sie geteilt werden!»

Aber warum verbreiten sie sich dann so rasant?

«Das kann unter Umständen üble Folgen haben»

Gregor Waller, Medienpsychologe an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW), erklärt die «enorme Viralität» des Briefs gerade damit, dass so vieles daran kreuzfalsch ist. Das Teilen auf Facebook diene dazu, den Inhalt zu prüfen. «Damit kann man die Reaktion des sozialen Umfelds auffangen», sagt Waller.

«Eine Falschmeldung hat per se Newswert, weil es die Information bisher ja nirgends gab.»
Gregor Waller, Medienpsychologe an der ZHAW

Ein weiterer Motor für die Viralität sei der Newswert einer Meldung. «Eine Falschmeldung hat per se Newswert, weil es die Information bisher ja nirgends gab», erklärt Waller. Wichtig sei dabei aber die Quelle, die in diesem Fall seriös scheine. «Die Botschaft kommt im Zeitungslayout daher. Der Titel ‹Hätten Sie das gewusst?› wirkt redaktionell gesetzt. Da fragt man sich: ‹Kann es nicht sein, dass das stimmt?›» 

Es liege daher auch in der Verantwortung einer Redaktion, den Wahrheitsgehalt eines solchen Leserbriefs zu überprüfen. Waller: «Dass ein Leserbrief mit Falschinformationen eine solche Verbreitung findet, kann unter Umständen üble Folgen haben.» Bei der Redaktion des «Marchanzeigers» weist man die Verantwortung dafür von sich: «Wenn ein Lesername und nicht die Redaktion unter dem Text steht, überprüfen wir die Fakten nicht», heisst es auf Anfrage. 

«Elsbeth Kälin, Pin-Up-Dame für Asylkritiker»

Nicht als gefährlich, sondern einfach nur nervig, bezeichnet der Stadtzürcher Gemeinderat Alan David Sangines den Leserbrief, der seit Monaten immer wieder an ihn herangetragen werde. In einem Blogeintrag vom März 2015 zerpflückt der SP-Politiker Kälins Argumente und fragt, an Kälin gerichtet: «Wie hätten Sie damals wissen können, dass Sie mit diesem Leserbrief zu einer Art Pin-Up-Dame für alle Asylkritiker würden?»

«Das hätte ich wirklich nicht gedacht», sagt Kälin auf Anfrage. «Und wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihn wohl gar nicht geschrieben.» Doch hinter dem Inhalt ihres Leserbriefs steht die Pensionärin, die sich auch heute noch beim Thema Sozialhilfebeiträge für Asylbewerber in Rage schimpft. Letztlich sei die Verbreitung des Textes – das sagt auch Facebook-User Christian S. – ein Zeichen dafür, dass das Thema den Leuten unter dem Nagel brenne. Korrekte Zahlen hin oder her. S. sagt: «Ich glaube eher unseren Pensionären als dem Bundesrat.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
28 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
SpikeCH
08.06.2015 19:07registriert Januar 2015
Anstatt nur zu sagen wie Falsch die falschen Falschinformationen und wie bös die bösen Schimpfer sind: wie wärs mit echten/ aktuellen Zahlen?Wenn die rasende Reporterin, Frau Wild sogar persönlich mit der Urheberin des Leserbriefs gesprochen hat, ist ihr sicher auch die Mühe nicht zu gross in einer breiten recherche die richtigen Zahlen zu vergleichen (Vollkosten eines Asylanten vs. AHV Rententotal) ? .. Ja, wer A sagt muss auch B sagen ;) ... meiner Ansicht nach zumindest ;)
17043
Melden
Zum Kommentar
avatar
Wandtafel
08.06.2015 18:06registriert März 2015
Bei besagter Zielgruppe ist der Vorgang, sich bei google.ch zu informieren indem man "Tagesgeld Asylant" sucht, viel zu komplex. Den "Teilen" Button in Facebook zu klicken, für das genügt aber jedes noch so kleine Hirn.
8716
Melden
Zum Kommentar
avatar
Mia_san_mia
08.06.2015 17:55registriert Januar 2014
Interessant... Da ich selbst aus der March komme, kenne ich den Leserbrief natürlich schon lange. Das ist aber lange gegangen, bis jemand gemerkt hat, dass der Inhalt so falsch ist.
418
Melden
Zum Kommentar
28
Bundesrat will Kernwaffenverbots-Vertrag weiterhin nicht unterschreiben

Der Bundesrat bleibt dabei: Er will das Uno-Abkommen über ein Atomwaffenverbot namens TPNW weiterhin nicht unterschreiben und ratifizieren. Er erachtet den Schweizer Einsatz für eine Welt ohne Kernwaffen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags (NPT) als zielführender.

Zur Story