Drei Monate nach Beginn des russischen Krieges in der Ukraine gibt Deutschland ein Bild ab, das nicht wenige «beschämend» nennen. Die Kritik zielt vor allem auf ihn: Bundeskanzler Olaf Scholz. Sein Zögern und Zaudern bei den Waffenlieferungen bringt ihm international heftige Vorwürfe ein. Polens Präsident Andrzej Duda hielt Scholz am WEF in Davos «Wortbruch» vor. Die Osteuropa-Expertin Franziska Davies von der Uni München bilanziert im Gespräch mit CH Media: «Deutschland hat viel Vertrauen verspielt.»
Auch von innen prasseln die Vorwürfe nur so herunter auf den deutschen Regierungschef. CDU-Politiker wie Norbert Röttgen und Roderich Kiesewetter zweifeln in aller Öffentlichkeit, ob der SPD-Kanzler überhaupt will, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und sämtliche russische Truppen aus dem Land abziehen.
Während seiner Rede an diesem Donnerstag am WEF räumte Scholz diesen Verdacht zumindest nicht aus. Putin dürfe den Krieg nicht gewinnen, sagte Scholz. Dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen müsse, sagte er nicht.
Die Vorwürfe sind happig – aber fundiert. Deutschland wirkt in dieser entscheidenden Kriegsphase nicht wie ein verlässlicher Partner für die Ukraine. Das hat vor allem drei Gründe.
Zuerst machte sich die grösste Wirtschaftsmacht Europas mit der Ankündigung lächerlich, der Ukraine in ihrem Überlebenskampf 5000 Helme liefern zu wollen. Dann liess Kanzler Olaf Scholz für einen kurzen Moment hoffen, dass seine Regierung verstanden hat: Scholz verkündete eine «Zeitenwende», 100 Milliarden fürs Militär – und Waffen für die Ukraine. Keine schweren, aber immerhin.
Die Lieferung von schweren Waffen, so Scholz, könnte nämlich einen Atomkrieg auslösen. Von dieser Einschätzung kam der Kanzler später aber ab – und erklärte, die Ukraine solle Panzer bekommen. Nicht direkt von Deutschland, aber von Staaten wie Tschechien und der Slowakei, die wiederum dafür Panzer aus Deutschland bekommen sollten. «Ringtausch», nennt sich das.
Ein Tausch ist es aber erst dann, wenn beide Seiten das bekommen, was ihnen versprochen wurde. Doch Slowenien, das seine alten Sowjet-Panzer vom Typ T-72 in die Ukraine liefern und dafür deutsche Marder erhalten sollte, wartet immer noch auf die deutsche Seite. Auch mit Tschechien gibt es Verzögerungen.
Polens Präsident Andrzej Duda konnte seinen Ärger über Deutschland nicht mehr zurückhalten. Auch sein Land lieferte alte T-72 nach Kiew und sollte dafür moderne deutsche Kampfpanzer bekommen. Doch Berlin habe «dieses Versprechen nicht erfüllt», so Duda während des Weltwirtschaftsforums in Davos. Und weiter:
Während die USA und andere milliardenschwere Waffenlieferungen in Richtung Kiew verschifften, und die Ukrainer bereits erste russische Panzer mit dem US-Gerät zerstörten, blieben die deutschen Lieferungen stecken. Wo, weiss niemand so genau. Selbst Experten sind ratlos. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski betont bei jeder Gelegenheit dass der Ukraine die Zeit davon laufe. Das Land brauche Waffen. Dringend. Doch Deutschland hat Zeit. Nichts überstürzen, lautet die Devise in Berlin.
Germany delivering weapons to #Ukraine pic.twitter.com/32Bw5VXqEp
— Mykhailo Zhernakov (@mzhernakov) May 25, 2022
Das deutsche Hin und Her bei den Waffenlieferungen strapaziert die Nerven der europäischen Partner - und vor allem auch der Ukrainer - zusehens. Die Zeitung «Welt» ist nicht sicher, ob «Unfähigkeit» oder «Unwille» Treiber der Ukraine-Politik der Regierung ist. So oder so lautet das vernichtende Urteil:
Wenig hilfreich war auch das Bild der beleidigten Leberwurst. Die Ukraine hatte den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier - notabene über viele Jahre einer der wichtigsten Figuren der Putin-nahen Politik Berlins - für nicht willkommen erklärt. Daraufhin entschied Kanzler Scholz, auch nicht nach Kiew zu fahren. Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Berlin, kommentierte das so:
Später erklärte Scholz seinen Verzicht auf einen Kiew-Besuch damit, dass er keinen Sinn darin sehe, dorthin zu reisen um schöne Bilder zu produzieren. Für seine Kritiker im In- und Ausland ein weiteres vorgeschobenes Argument. Am elegantesten entlarvte die Tageszeitung «taz» den Kanzler:
Bis heute weigert sich Scholz - anders als seine Aussenministerin Annalena Baerbock - persönlich nach Kiew zu reisen. Vielen stösst das sauer auf. Denn Symbolpolitik ist in Kriegszeiten nicht zu unterschätzen. Das demonstrieren Selenski und auch die Klitschko-Brüder seit drei Monaten eindrucksvoll.
Vertrauen verspielt hat Deutschland allerdings nicht erst seit dem russischen Einmarsch vor drei Monaten, sagt die Historikerin und Osteuropa-Kennerin Franziska Davies, sondern schon seit Jahrzehnten, ganz besonders aber seit 2014.
Damals besetzten russische Truppen die ukrainische Halbinsel Krim und Teil des Donbass - doch Deutschland suchte weiter die Nähe zum Kremlchef. «In Osteuropa wurde diese Politik als verfehlt wahrgenommen», sagt Davies.
Sinnbildlich dafür steht die Gaspipeline Nord Stream 2. «Ein klar anti-ukrainisches Projekt», sagt Davies, das in Deutschland aber stets als «rein wirtschaftlich» verkauft wurde. Selbst als Putin Anfang diesen Jahres seine Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren liess, hielt Berlin noch daran fest. Erst unter massivem internationalen Druck wurde das Projekt auf Eis gelegt.
In Osteuropa herrscht allerdings noch eine viel tiefer liegende Skepsis gegenüber Deutschland, wenn es um die Beziehungen mit Russland geht. Die Teilungen Polens im späten 18. Jahrhundert, sagt Historikerin Davies, ist eines der beiden grossen Traumata in der Region. Damals teilten sich Russland, Preussen und Österreich die Adelsrepublik Polen-Litauen untereinander auf – das Ende polnischer Staatlichkeit für mehr als hundert Jahre.
Das zweite grosse Trauma: Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Die doppelte Besatzung sei auch in der nationalen Erinnerung in der westlichen Ukraine tief verankert.
Bei der Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion, später Russland, seien besonders Weissrussland und die Ukraine - immerhin beide Teile der Sowjetunion - ein weiteres Mal sehr stark vernachlässigt worden. Und schliesslich: Das Festhalten an Nord Stream 2, während im Donbass der Krieg tobte. «Für die Opfer von Putins Politik hat sich Deutschland lange nicht interessiert», sagt Historikerin Davies.
Diese Kombination aus Versäumnissen der Vergangenheit und der Gegenwart lässt in weiten Teile Osteuropas die Wut auf Deutschland immer weiter steigen. Um das Ruder herumzureissen sei es noch nicht zu spät, sagt Davies. Allerdings wird es höchste Zeit. (bzbasel.ch)