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Zwei Zulieferer von VW weigern sich derzeit, bereits zugesagte Teile auch auszuliefern. Die Produktion des Modells VW Golf muss deshalb teilweise auf Eis gelegt werden. Das kann sehr teuer werden. Ein einwöchiger Produktionsstopp könnte Volkswagen einen Verlust von bis zu 100 Millionen Euro kosten. Wie ist es möglich, dass zwei kleine Zulieferer den zweitgrössten Autohersteller der Welt so unter Druck setzen können?
Blenden wir zurück: Im Herbst 2008 standen in den USA General Motors und Chrysler vor dem Aus. Ohne eine massive Geldspritze aus Washington hätten die beiden Traditionsunternehmen ihre Bilanzen deponieren müssen. Ihren schärfsten Konkurrenten Ford hätte dies eigentlich freuen müssen. Doch das Gegenteil war der Fall.
Alan Mulally, CEO von Ford, hielt vor dem Kongress ein flammendes Plädoyer, um die Abgeordneten zu überzeugen, GM und Chrysler zu retten. Er tat dies nicht aus Nächstenliebe, sondern aus reinem Egoismus. Die drei grossen Autohersteller würden mehr als 90 Prozent ihrer Zulieferer teilen, belehrte Mulally die Politiker. «Sollte einer dieser Zulieferer bankrott gehen, dann wäre der Effekt innert Tagen, ja gar Stunden auch bei Ford zu spüren. Ford wäre nicht mehr in der Lage, Autos zu produzieren.»
Die Autoindustrie hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Das erste Werk von Henry Ford, River Rouge, war noch vertikal integriert, wie es in der Fachsprache heisst. Kurz zusammengefasst bedeutet dies: Stahl und Holz wurden angeliefert, fertige Autos verliessen das Förderband. Alle Zwischenschritte wurden inhouse erledigt. Kein Zulieferer hätte Ford je in Schwierigkeiten bringen können.
Heute werden nur noch Teslas in einem vertikal integrierten Werk gebaut. Für alle anderen gilt die so genannte «Just-in-time»-Produktion. Das bedeutet, dass die rund 5000 Einzelteile, die ein durchschnittlicher Personenwagen aufweist, entlang einer globalen Wertschöpfungskette, der Supply Chain, gefertigt und dann am Schluss am Förderband zeitgerecht zusammengebaut werden.
Die globale Supply Chain der Autoindustrie ist extrem ausgedünnt worden. In den Neunzigerjahren haben Manager wie der legendäre José Lopez (zuerst Opel, dann VW) begonnen, die Zulieferer massiv unter Druck zu setzen und von ihnen verlangt, die Preise zu senken. Die Beziehung zwischen Hersteller und Zulieferer wurde dadurch nicht unbedingt harmonischer.
Gleichzeitig begannen die Hersteller, einen grossen Teil ihrer Inhouse-Fertigung abzustossen. GM beispielsweise verkaufte seinen wichtigsten Zulieferer Delphi an einen Private Equity Fund. Für die Angestellten bedeutete das eine Lohneinbusse, die bis zu zwei Drittel betragen konnte. Auch das war der Harmonie nicht unbedingt zuträglich.
Die Autokonzerne konnten auf diese Weise zwar Kosten sparen, sie begaben sich jedoch auch ungewollt in eine neue Abhängigkeit. Barry C. Lynn beschreibt dies in seinem Buch «Cornered» wie folgt: «So wie die vielen Köpfe der Hydra auf einen Körper angewiesen sind, verlassen sich die Autohersteller auf einen gemeinsamen Körper ihrer Zulieferer. Aus Sicht der Automobilindustrie sind diese Zulieferer einzeln gesehen zwar relativ klein. In der Gesamtsicht sind sie jedoch ‹too big to fail›.»
Das ist keineswegs graue Theorie. Als die japanische Stadt Kobe 1995 von einem Erdbeben verwüstet wurde, kam es weltweit in der Autoindustrie zu Engpässen, weil sich in dieser Stadt ein bedeutender Zulieferer für ein bestimmtes Teil befand. Das gleiche Phänomen trat 2011 nach einer Überschwemmung in Thailand auf. Oft gibt es nämlich nur noch einen einzigen Hersteller für Elektromotoren für Scheibenwischer oder für den Fensterheber.
Die Abhängigkeit der grossen Hersteller von den kleinen Zulieferern kann auch zu erpresserischen Zwecken missbraucht werden. Das versuchte zur Jahrhundertwende David Stockman. Er war in den Achtzigerjahren Mitglied des Stabes von Ronald Reagan. Danach wurde er Partner beim legendären Investmentfond Blackstone Group.
In den Neunzigerjahren erwarb Stockman die Beteiligungsfirma Collins & Aikman (C & A). In dieser Firma bündelte er eine ganze Reihe von kleinen Zulieferern. Im Frühling 2005 schlug Stockman zu und setzte den grossen Drei in Detroit das Messer an den Hals und drohte mit dem Ultimatum: Entweder mehr Geld oder die Zulieferung wird eingestellt. Chrysler ging in die Knie, bezahlte sofort 75 Millionen Dollar cash und sagte langfristig über 300 weitere Millionen zu.
Bei GM und Ford hingegen hatte sich Stockman überschätzt. Sie gingen zum Gegenangriff über und stürzten Stockman vom Sockel. Am 17. Mai 2005 musste er seinerseits die Bilanz deponieren. Bei der aktuellen Auseinandersetzung in Wolfsburg hingegen geht es weder um Naturkatastrophen noch um Erpressung. Die beiden Zulieferer verlangen von VW anständige Preise, um so die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter zu sichern.