Raphael Rohner fotografiert schon seit über zehn Jahren verlassene und verfallene Orte. Uns gibt er einen kleinen Einblick in sein interessantes Hobby. Obwohl er uns seinen Namen verrät, möchte er lieber nicht, dass wir ein Foto von ihm in diesem Beitrag veröffentlichen.
«Hi Raphi, hättest du heute spontan Zeit?», schreibe ich Raphael Rohner an einem kühlen Mittwochmorgen. Wir hatten zuvor ausgemacht, dass ich ihn im Laufe der Woche über WhatsApp kontaktiere.
«Was heisst heute, bei mir ist's 19.29 Uhr», kommt die Antwort etwa zwei Stunden später. Auf die Frage, wo er denn gerade unterwegs sei, schickt er mir ein paar eindeutige Emojis, gefolgt von einem noch eindeutigeren Foto.
Hiroshima also, denk' ich mir und frage ihn, ob er gerade auf der Jagd nach einem Lost Place sei oder einfach nur Ferien mache. «Es hat schon zwei, drei interessante Orte hier», meint er darauf. Einen davon interessiere ihn aber ganz besonders:
Da soll es irre verrückt sein, schreibt er mir. Eine ehemalige Bergbaustadt, zu der man – wenn überhaupt – nur eine Stunde Zutritt bekommt.
«Gaijin-san (Herr Ausländer) muss aber noch zwei, drei Leute zum Sushi einladen, um da eine Genehmigung zu bekommen.»
Auf meine Frage, wen er da denn genau zum Sushi einladen müsse, geht er nicht ein. «Ich würde da halt gerne den ganzen Tag rumschleichen», umreisst er mir seinen Plan minimal. Doch da gebe es auch noch das Problem, wie er überhaupt auf die Insel komme: «Ich muss sie quasi überzeugen, mich abzusetzen – und auch wieder abzuholen.»
Einfach werde das nicht, denn aktuell erhielten nicht einmal Filmcrews eine Bewilligung. «Wenn das nicht so weit draussen im Meer wäre, würde ich wohl ein Boot mieten und selbst rüberschippern.» Es sei eben alles etwas komplizierter als daheim, da sei es viel einfacher, irgendwo reinzukommen.
Ich nehm' das Stichwort dankend an und frage ihn, wie er sich auf so einen Einsatz vorbereite. «Manchmal hilft ein Bauhelm und eine Warnweste», schreibt er schelmisch. Ich bin doch etwas überrascht, dass das wirklich funktioniert.
Meine nächste Frage ist entsprechend vorhersehbar:
Natürlich lässt mich Raphi nicht hängen und erzählt von einem Abenteuer in Rumänien. Dort sei er zusammen «mit so einem Typen» durch einen Spalt in einer Mauer in ein altes Fabrikgelände eingestiegen. Plötzlich Hundegebell und im nächsten Moment stehe ein «scheiss nervöser» anderer Typ mit Knarre vor ihnen. Und auch hier hat sich Raphi mit einem alten Trick aus der Misere manövriert: «Wir haben einfach behauptet, wir seien Touristen und hätten uns verirrt.»
Obwohl das alte Fabrikgelände irgendwo im Nirgendwo stand, hat der Wächter ihnen geglaubt. «Das musste er, zum Glück», meint Raphi vieldeutig. «Wir haben ja auch ausgesehen wie Touris, mit unserem ganzen Fotozeugs.» Und der erste Typ, also nicht der Knarren-Typ, sondern sein Begleiter, konnte Rumänisch – das habe sicher geholfen.
Doch auch abseits von nervösen Wächtern mit Schusswaffen hat Raphi einige brenzlige Situationen erlebt. Einmal sei er in einem alten Bergwerk nur knapp einer Steinlawine entkommen. «Da sind Steine so gross wie Autos irgendwo ins Dunkel unter uns gedonnert.»
Ein anderes Mal in einem Industriegebäude wurden er und seine Begleiter mit einer sehr rostigen Leiter konfrontiert. Da es zu gefährlich schien, die Leiter einfach so hinunterzusteigen, haben sie sich alle gesichert. «Als wir dann eine Fixierung für die Leiter machen wollten, sie also oben mit einem ordentlichen Mastwurf sichern, rauschte die ganze Leiter auf einmal in die Tiefe.»
Das ist eben das Naturell von solchen Lost Places, das weiss auch Raphi. Wichtig sei, dass man besonnen vorgehe und nicht einfach ohne angemessene Ausrüstung in die Areale eindringe. Er habe mindestens immer ordentliche Feuerwehrstiefel oder Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen an. Und wenn eine alte Treppe oder ein Gebäude eben mal zu baufällig aussehe, müsse man dieses meiden.
«Es gibt aber auch immer solche Spinner, die herumrennen, in den falschen Schuhen und Kleidern in Abbruchhäuser reingehen ... Das finde ich immer sehr fraglich.»
Ein Restrisiko bleibt aber immer, das weiss auch Raphi. Aber der Drang, das Unbekannte zu entdecken, zu erforschen sei einfach zu gross:
«Für mich ist es jedesmal ein Kribbeln, wenn ich sorgsam eine Türe zu so einem verlassenen Ort öffne. Man ist an einem Ort, an dem andere Menschen mit einer totalen Selbstverständlichkeit waren. An den feuchten Wänden hallten einst Stimmen von Menschen, die vielleicht sogar noch leben.
Man kommt an Unorte, die eigentlich nicht mehr in unsere Gesellschaft passen. Heute muss alles neu und geleast sein. Kaum mehr jemand mag altes Zeug. Darum vermodern teils auch wunderschöne alte Autos in Garagen irgendwo im Wald. Grossväter hatten sie da draussen abgestellt. Vielleicht aus einem Erbstreit?
Dann steht man da und im Kegel der Taschenlampe erstrahlt der angerostete Glanz eines lange gehegten Traums von jemandem, der wohl einmal gesagt hat: ‹Irgendwann fahren wir wieder zusammen raus, wie in unseren jungen Jahren› ... und es kam nie mehr dazu.»
Nach diesen nachdenklichen Sätzen ist für ein paar Tage Funkstille zwischen uns. Dann zeigt mir das Display meines Smartphones eine unbeantwortete Nachricht von Raphi an:
Es folgen 13 Bilder, natürlich von einem zerfallenen Ort, ohne weitere Erklärung:
Es scheint fast, als wollte Raphi, dass ich die Fotos ohne Kontext auf mich wirken lasse. Ich schau' mir die Bilder an und hake dann doch etwas nach:
Wo genau das ist, sagt er mir nicht. Ich will es auch nicht wissen. Es ist keine gute Idee, die Standorte von Lost Places in die Welt hinauszuposaunen. Zu gross ist die Gefahr, dass danach besagte Turnschuh-Abenteurer dort auftauchen. Immerhin verrät er mir noch, dass die Häuser wohl die Überbleibsel eines Erdbebens sind. Bei Japan nicht wirklich ein hilfreicher Hinweis, um die Örtlichkeit einzugrenzen.
Raphi fotografiert immer analog, auch wenn er dafür oft «einen riesigen Kasten» durch die Gegend schleppen muss. Aktuell sei es die Pentax 67ii.
Das hat ihn aber auch schön öfters aus heiklen Situationen gerettet. Wie zum Beispiel als er mir zwei Tage später die Fotos eines verlassenen Vergnügungsparks schickt.
«Da kam irgendwann ein grimmiger Typ und wollte irgendwas. Dann sah er meine Kameras und plötzlich interessierte ihn nur noch das.»
Dann, zwei weitere Tage später, scheint Raphi endlich an seinem Ziel zu sein, als ich seine neue Nachricht öffne und sich mir dieses Foto präsentiert:
«Oh, cool. Warst du drauf?», schreibe ich ihm nun doch ein bisschen aufgeregt. Auf die Antwort muss ich fast exakt neun Stunden warten:
Das gehört bei der Jagd nach Lost Places leider auch dazu. Und in Japan ist eben alles ein bisschen komplizierter als daheim.