Noch ist der Westen paralysiert. Er ist überrumpelt von der blitzartigen Machtergreifung der Taliban in Afghanistan. Was ist hier schiefgegangen?
Die NATO schiebt die Auswertung dieser Frage vor sich her. Generalsekretär Jens Stoltenberg verkündete anfangs Woche bei der Pressekonferenz in Brüssel zwar, dass der Westen Lehren ziehen müsse. Welche genau, sagte er jedoch nicht. Auch der EU-Sicherheitsbeauftragte Josep Borrell hält sich mit kritischen Worten zurück. Das einzige, was er in Richtung USA sagte: «Man hätte das besser managen können.»
Weitaus deutlicher ist Afghanistan-Kenner und Professor für Islamwissenschaften, Reinhard Schulze. Im Interview mit watson sagt er: «Seitens der Wissenschaft gab es viele Vorschläge, die das Dilemma von heute in Afghanistan verhindert hätten». Hier sind die wichtigsten Vorschläge, zusammengefasst in drei Punkten.
Die wohl lauteste Kritik am Waterloo in Afghanistan betrifft den übereilten Rückzug des US-Militärs: Die Truppen über Nacht abzuziehen habe den afghanischen Streitkräften moralisch die Beine weggezogen, sagt Thomas Ruttig gegenüber der «Tagesschau». Er ist Co-Direktor der Kabuler Denkfabrik «Afghanistan Analysts Network».
Wenn man das Militär aus einem Gebiet hohlen will, gebe es Möglichkeiten zu gehen, ohne wirklich zu gehen, sagt Politikprofessor Ken Menkhaus in einem Interview der US-Hochschule «Davidson», an der er lehrt. Er macht den Vergleich zur Regierung in Somalia, ein weiteres Land, in dem der Westen intervenierte und das von Korruption, ethnischer Spaltung und gewalttätigem Extremismus geplagt wird. Vergangenen Dezember hätten sich dort die amerikanischen Truppen zurückgezogen, doch das Land fiel nicht in die Hände der Dschihadisten-Gruppe Al Shabab. Warum? «Das Militär hat die Region nicht vollständig verlassen.»
Aus der Luft, von Grenzgebieten oder der Küste Somalias aus, führten die US-Truppen Fernangriffe gegen die Al-Shabab durch und schränkten so deren Bewegungsraum ein. Gleichzeitig hätten Friedenssoldaten der Afrikanischen Union für den Schutz wichtiger Einrichtungen in Somalia gesorgt. So wurde die noch schwache Regierung und sein Sicherheitsapparat unterstützt, sagt der US-Politologe.
Zwanzig Jahre lang versuchte der Westen, eine Demokratie in Afghanistan aufzubauen. Nur habe er sich dabei auf falsche Bündnisse eingelassen, findet Islamprofessor Schulze. «Das grosse Interesse vieler Afghanen war, die Macht der Warlords zu brechen.» Die Bevölkerung sah diese Lokalfürsten nämlich nicht als Garanten ihrer Interessen, sondern einfach als korrupte Machthaber.
Auf das Bedürfnis des afghanischen Volkes sind die westlichen Alliierten jedoch nicht eingegangen – im Gegenteil. Eine militärische Partnerschaft mit den Warlords zu sichern hatte Vorrang, denn sie waren quasi die Hauptkraft im Kampf gegen die Taliban. «Dafür hat der Westen ihnen grosse Teile des politischen Systems überlassen und die Augen vor ihrer Korruption, Verwicklung in den Drogenhandel, Kriegsverbrechen und schlimmsten Menschenrechtsverletzungen verschlossen», sagt Thomas Ruttig gegenüber der «Tagesschau». In seinen Augen waren die Warlords das zersetzende Element im neuen Afghanistan.
Islamprofessor Schulze sagt weiter, dass die Wissenschaft besonders einen Punkt immer wieder betont hätte: «Eine Intervention gegen die Taliban bedeutete, dass man sich in die Gesellschaft Afghanistans einmischt. Die Intervention hätte daher sozial verträglich und nachhaltig sein müssen.» Man hätte darauf achten müssen, was die Werte der Afghaninnen und Afghanen, Sitten und Vorstellungen einer Gesellschaft sind. «Das ist etwas anderes als Brunnen zu bohren, technische Geräte anzubieten oder Institutionen zu errichten.»
Ein Beispiel für diese Normen sei das Gastrecht: «Die Terrororganisation Al-Kaida genoss das Gastrecht der Afghanen – heute Paschtunen genannt. Ein Angriff des Westens auf Al-Kaida kam damit einem Angriff auf sie selbst gleich. Das hätte der Westen wissen und anders handeln müssen», sagt Schulze im Interview mit der «ZEIT».
Politikprofessor Menkehaus nennt einen weiteren Faktor: «Wir betrachten diese Aufstände und Aufstandsbekämpfungen als ein Schachspiel mit klar definierten Kampflinien.» Dabei sei es vielmehr ein Fussballspiel: An diesen Konflikten seien Familien und Gruppen beteiligt, die auf beiden Seiten arbeiten, miteinander verhandeln und sich absprechen. Ein weiterer Grund, weshalb die Taliban ein leichtes Spiel hatten: Sie sind Landsleute, haben ein gutes Netzwerk und kennen die sozialen Regeln.
Zum Schluss bleibt die Frage, wieso die Politik nicht auf diese Ratschläge gehört hat. Schulze begründet es damit: «Man schöpfte das Wissen von Institutionen, die die Sicht der internationalen Politik, der Sicherheitspolitik und internationalen Beziehungen hervorhebten.» Da viele afghanische Expats diese Sicht teilten, schien der Ansatz des Westens erfolgversprechend. «Man irrte sich.»
Entschuldigt bitte diese Aussagen, aber immer dann, wenn jemand mit so ‚einfachen‘ Lösungen kommt, ist Skepsis angebracht. Hier jedoch nur Kopfschütteln.
Hätten die Amis oder wer auch immer mit Marschflugkörpern angegriffen, dann wären die Taliban in Wochen/Monaten trotzdem an der Macht, es wären einfach zusätzlich noch hunderte, wenn nicht tausende Zivilisten gestorben.
Zu Nation Building: Ich bin der Überzeugung dass dies gar nicht geht, nocht mit Brunnen, aber auch nicht anderweitig „sozial verträglich“.