Es ist der Tag vor dem EM-Viertelfinal gegen die Schweiz. Luis Enrique schaut grimmig in die Kamera. Mal zuckt er mit den Schultern. Mal schüttelt er den Kopf. Mal drückt er sein Unverständnis für gewisse Fragen wenigstens mit Worten aus.
Zehn Tore haben die Spanier in den letzten beiden Spielen erzielt, das schon. Aber einen wirklich guten Eindruck haben sie an dieser EM eben trotzdem nicht hinterlassen. Viele Probleme bei den beiden Unentschieden gegen Polen und Schweden, nach 3:1-Führung im Achtelfinal gegen Kroatien fast noch ausgeschieden.
Darum: Zweifelt Luis Enrique manchmal an seinem Team? «Zweifel? Ich? Nein! Das müssen Sie schon jemanden anderen fragen.» Und schliesslich, als jemand wissen will, ob er eine bessere Mannschaft gesehen habe an diesem Turnier, antwortet er: «Nein.» Abgang. Thema beendet.
Luis Enrique, 51-jährig, gilt als eigenwilliger Trainer. Durchaus einmal stur. Die grosse Liebe ist noch nicht entstanden zwischen dem Fussball, den er spielen lässt, und dem spanischen Volk. Wobei der Massstab auch ein hoher ist. Die Erinnerung an die goldenen Jahre mit den Titeln 2008 (EM), 2010 (WM) und 2012 (EM) schwingt immer noch kräftig mit, wenn das Volk über ihre «Furia Roja» verhandelt. Nur das Beste ist gut genug. Allein, die Ära der grossen Stars Casillas, Ramos, Pique, Xavi, Iniesta, Torres oder Villa ist längst vorbei.
Geradezu revolutionär wurde Enriques Verzicht auf sämtliche Spieler von Real Madrid angesehen. So etwas hat es in der Geschichte Spaniens noch nie gegeben. Auch von Barcelona sind nur drei Spieler dabei. Darunter der Captain Sergio Busquets. Dumm nur, dass sich ausgerechnet dieser Busquets kurz vor dem Turnier mit Corona infizierte – und für die ersten beiden Spiele ausfiel.
Die Presse befürchtete das Schlimmste, schrieb von «Corona-Panik». Nur einer sah das gelassener: Luis Enrique. «Verglichen mit dem, was ich erlebt habe, ich das alles ein Kinderspiel», sagte er vor dem Auftaktspiel gegen Schweden. Es war seine bisher erste und einzige Äusserung zu seinem persönlichen Drama, das er vor knapp zwei Jahren erleben musste: Enrique verlor seine neunjährige Tochter Xana, sie starb an Knochenkrebs.
Im März 2019 trat Enrique als Nationaltrainer Spaniens zurück, um sich ganz auf den Kampf seiner Tochter gegen den Krebs konzentrieren zu können. Sein Assistent und guter Freund Robert Moreno übernahm – mit dem Versprechen, Enrique den Posten zurückzugeben, wenn sich dieser wieder im Stande fühlt für die Aufgabe.
Moreno aber fand Gefallen an seiner neuen Aufgabe. Und hat Enrique bei einem Gespräch mitgeteilt, er möge doch bis nach der EM 2020 warten, ehe er wieder übernimmt. Enrique fühlte sich hintergangen, nannte Moreno öffentlich «illoyal». Die Freundschaft zerbrach. Spaniens Verband aber hielt an seinem Versprechen fest und installierte Enrique direkt nach vollbrachter Qualifikation im November 2019 wieder.
Die Geschichte kennt trotzdem nur Verlierer. Denn Moreno war bei den Spaniern durchaus beliebt. Enriques Privatsphäre wird von der Presse zwar ausnahmslos respektiert, nie war und ist der Tod seiner Tochter ein Thema. Sehr wohl aber werden sein Fussball und seine Entscheidungen hinterfragt.
Jüngstes Beispiel: Alvaro Morata. Der Stürmer ist bei Enrique gesetzt. Warum, verstehen nicht alle. Morata wurde nach vielen vergebenen Chancen heftig angefeindet, sogar Mord-Drohungen waren darunter. Enrique aber reagierte, wie er es immer tut: Er stellte sich vorbehaltlos hinter seinen Spieler: «Morata und zehn andere werden spielen», stellte er klar.
Und nun also das Duell mit der Schweiz. Es ist keine besonders reizvolle Aufgabe. Denn eines ist klar: Enrique und seine Spanier können nur verlieren.
Wieso muss es dann in den Titel? Wieso ihm nicht seine Privatsphäre lassen?