Ein halbes Jahr ist es her, dass im Tennis um Preisgeld und damit um Einkommen gespielt worden ist. Zwar wurde ein Entlastungsfonds mit einem Volumen von sechs Millionen Dollar eingerichtet, doch die maximal 10'000 Dollar, die an die Spielerinnen und Spieler gingen, vermindern den Leidensdruck für schlechter Klassierte nur geringfügig.
Belinda Bencic sagte Ende Juli zur Aargauer Zeitung: «Kein normaler Mensch möchte jetzt nach Amerika, ich möchte auch lieber in Europa bleiben.» Andererseits sei das Tennis ihr Beruf, mit dem sie sich ihr Einkommen erwirtschafte. Bencic ist die Nummer 8 der Welt und verdiente im letzten Jahr vier Millionen Dollar. Im August gab sie bekannt, wie Stan Wawrinka nicht an die US Open zu reisen, wo sie im Vorjahr die Halbfinals erreicht hatte.
Ein Luxus, den sich nur wenige leisten können. Jil Teichmann zum Beispiel, die 2019 zwei Turniere gewann, jüngst in Lexington den Final erreichte und in der Weltrangliste auf Position 54 geführt wird. Sie lässt sich auch nicht davon abschrecken, dass sie für ihre Teilnahme ein zweiseitiges Dokument unterzeichnen muss, das der Aargauer Zeitung vorliegt. Dort steht unter anderem: «Ich bin mir der Risiken bewusst. Ich übernehme freiwillig die volle Verantwortung für jedes Risiko, einschliesslich schwerer Krankheit oder Tod, für mich, aber auch für die Menschen, mit denen ich Kontakt habe.» Zudem übernehmen die Unterzeichnenden die Haftung für Schäden und verpflichten sich, in keinem Fall den Rechtsweg zu beschreiten. Gültig ist diese Erklärung bis in alle Ewigkeit. Heisst: Tod auf eigene Gefahr.
Die USA gelten als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das gilt nicht zuletzt für die Rechtssprechung. Einer Rentnerin, die Kaffee verschüttet und sich dabei Verbrennungen zugezogen hatte, musste McDonald's einst 4,5 Millionen Dollar Schadenersatz bezahlen. Das Gericht argumentierte, die Fastfood-Kette habe es versäumt, darauf hinzuweisen, dass der Kaffee heiss sei.
Auch die Veranstalter der US Open haben schon unliebsame Erfahrungen mit dem Gesetz gemacht. Genie Bouchard war 2015 in der Kabine auf Seife ausgerutscht, erlitt dabei eine Gehirnerschütterung und konnte nicht zu ihrem Achtelfinal gegen die spätere Finalistin Roberta Vinci antreten. Bouchard verklagte den amerikanischen Verband USTA, der zudem Videoaufnahmen als Beweismittel vernichtet haben soll. 2018 einigte man sich auf einen Vergleich, bei dem Bouchard ein Betrag im mittleren, einstelligen Millionenbereich zugesprochen worden sein soll.
Die Geschichte mag dazu beigetragen haben, dass sich der Veranstalter nun gegen alle Eventualitäten absichern will. Doch der Preis ist hoch. Die Liste der Absagen wird immer länger. Mit Rafael Nadal und der verletzten Bianca Andreescu fehlen die Titelverteidiger. Bei den Frauen verzichten nicht weniger als sechs Spielerinnen aus den Top Ten der Welt auf eine Teilnahme, darunter mit Ashleigh Barty und Simona Halep die Nummern eins und zwei der Welt. Nie zuvor seit der Professionalisierung des Tennis-Zirkus 1968 war ein Grand-Slam-Turnier so schlecht besetzt. Stimmt, was die spanische Sportzeitung «Marca» berichtete, soll eine Gruppe von Spielern aus den Top 20 sogar mit einem Boykott gedroht haben. Die Differenzen wurden in einem eiligst einberufenen Telefonat beseitigt.
In dieser Woche reisten Spielerinnen und Spieler aus allen Winkeln der Erde nach New York, wo in der kommenden Woche ein Masters-Turnier und im Anschluss die US Open gespielt werden. Sie und ihre Begleiter werden in zwei Hotels in Flughafennähe und in Suiten auf der Anlage in Flushing Meadows komplett isoliert. In einem siebenseitigen Dokument wird das Sicherheitsprotokoll festgehalten. Demnach werden sämtliche Unterkünfte rund um die Uhr überwacht. Wer in der Blase ist, wird alle vier Tage getestet. Wer positiv getestet wird, oder gegen das Protokoll verstösst, wird vom Turnier ausgeschlossen. Zudem gilt eine generelle Maskentragepflicht. Wie ernst die Anwesenden das zuweilen nehmen, dokumentieren diese gleich selber in den sozialen Medien: gar nicht.
Jene, die sich davon nicht abschrecken lassen, werden fürstlich belohnt. Obwohl keine Zuschauer zugelassen sind und damit ein wesentlicher Teil der Einnahmen wegbricht, werden 53,4 Millionen Dollar an Preisgeldern ausgeschüttet – immerhin 95 Prozent des Vorjahrs. In Anbetracht dessen, dass der amerikanische Verband USTA wegen der finanziellen Folgen der Pandemie über 100 Angestellte entliess, wirkt das wie blanker Hohn.
Es sollte dann einfach als Gegenbeispiel angeführt werden, dass in Europa Milliardenkonzerne über viele Jahre hinweg den Staat und die Kunden im ganz grossen Stil betrügen können und danach statt bestraft subventioniert werden.